< zurück


Leseprobe aus
John Banville, Sonnenfinsternis.
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2002


Am Anfang war es eine Form. Oder nicht einmal das. Ein Gewicht, ein zusätzliches Gewicht; Ballast. Ich spürte es an jenem ersten Tag draußen im Freien. Es war, als ginge jemand lautlos neben mir, oder besser: in mir, genau im gleichen Schritt wie ich, ein anderer, der nicht ich und mir dennoch vertraut war. Ich war es gewohnt, Rollen zu spielen, die hier aber, diese hier unterschied sich von allen bisherigen. Ich blieb stehen, starr, erstarrt in dieser infernalischen Kälte, die ich mittlerweile so gut kenne, diese paradiesische Kälte. Dann ein ganz leichtes Sichverdichten der Luft, eine kurze Verdeckung des Lichts, als käme da etwas herabgesegelt, direkt an der Sonne vorbei, ein geflügelter Knabe vielleicht oder ein fallender Engel. Es war April: Vogel und Strauch, silbriges Flimmern des nahenden Regens, weiter Himmel, Wolken wie Eisberge, monumental, treiben dahin. Und so sehen Sie mich, den Gejagten, in meinem fünfzigsten Jahr, jählings bestürmt, mitten in der Welt. Ich hatte Angst und allen Grund dazu. Ich malte mir die Kümmernisse alle aus, all die Gemütsbewegungen.
Ich drehte mich um und sah zurück und erblickte am Fenster des Zimmers, das früher das Zimmer meiner Mutter gewesen war, eine Gestalt – offenbar meine Frau. Die Gestalt stand reglos da und schaute unverwandt in meine Richtung, aber nicht zu mir. Was sah sie? Wonach hielt sie Ausschau? Eine Sekunde lang fühlte ich mich herabgesetzt – nur eine Nebensächlichkeit in diesem Blick, ein Blick wie ein Schlag ins Gesicht oder ein höhnisch hingehauchter Kuß. Der Tag spiegelte sich in der Glasscheibe und brachte die Erscheinung dort am Fenster zum Glänzen und ins Gleiten; war sie es wirklich, oder war es nur ein Schatten in Form einer Frau? Ich entfernte mich auf dem holprigem Boden, denselben Weg zurück, den ich gekommen war, und dieser andere, der mich gekapert hatte, der Eindringling ging unverdrossen mit, wie ein Ritter in seiner Rüstung. Ein Gang auf trügerischem Grund. Das Gras griff nach meinen Knöcheln, und im Lehm, unter dem Gras, gab es Löcher von den Hufen der Kühe aus grauer Vorzeit, als diese Stadtrandsiedlung hier noch unbebautes Land gewesen war; bloß nicht stolpern, sonst breche ich mir am Ende noch einen der zahllosen zarten Knochen, die man im Fuß angeblich hat. Angst schwappte in mir hoch wie Gallensaft. Wie, fragte ich mich, wie soll ich es hier aushalten? Wie bin ich nur darauf gekommen, daß ich es hier aushalten könnte, ganz alleine? Doch jetzt war es zu spät; jetzt mußte ich die Sache zu Ende bringen. Sagte ich mir, brabbelte ich laut vor mich hin: Jetzt mußt du die Sache zu Ende bringen. Da nahm ich den salzigen Gestank des Meeres wahr und schauderte.
Ich bat Lydia, mir zu erzählen, wonach sie Ausschau gehalten hatte.
„Was?“ sagte sie. „Wann?“
„Da oben. Vom Fenster aus“, ich zeigte hoch. „Du hast mir nachgeschaut.“
Sie betrachtete mich mit diesem tumben Ausdruck, den sie neuerdings öfter hatte – sie ließ den Unterkiefer schlaff herunterhängen, machte ein Doppelkinn und sah aus, als wollte sie irgendwas verschlucken. Sie sei überhaupt nicht oben im Haus gewesen, sagte sie. Dann blieben wir noch einen Augenblick lang stehen und schwiegen uns an.
„Sag, frierst du nicht?“ sprach ich. „Ich friere.“
„Wann frierst du denn mal nicht?“
„Heut nacht im Traum war ich ein Kind und wieder hier.“
„Gewiß, in Wahrheit warst du niemals fort.“
Ein Ohr für Jamben hat sie, meine Lydia.

John Banville, geb. 1945

© 2002 Kiepenheuer & Witsch

Aus: John Banville, Sonnenfinsternis (engl. Eclipse), Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2002. ISBN 3-462-03135-X

Weitere Leseproben aus Banville:
Der Unberührbare

Geister
Caliban
Die See
Nicht frei von Sünde

 


 

< zurück

Seitenanfang