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Leseprobe aus
John Banville, Caliban.
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2004


Wer spricht? Es ist ihre Stimme, in meinem Kopf. Ich fürchte, sie wird nicht aufhören, bevor ich aufhöre. Sie spricht zu mir, während ich mich durch diese kopfsteingepflasterten Gassen schleppe, und sagt mir Dinge, die ich nicht hören will. Manchmal antworte ich, erhebe laut Protest, verlange in Ruhe gelassen zu werden. Gestern bei meinem Bäcker auf der Via San Tommaso, der Laden war knüppelvoll, muss ich wohl irgendetwas gerufen haben, ihren Namen vielleicht, denn plötzlich schauten alle mich an, wie man hier eben schaut, nicht erschrocken oder missbilligend, bloß neugierig. Inzwischen kennen sie mich alle, der Bäcker, der Metzger, der Gemüsehändler und die Kundschaft auch, die Hausfrauen mit den hennaroten Haaren, die meisten sind betulich wie Tauben, mit ihrem Parfüm und ihrem hässlichen Schmuck und ihren großen dunklen, enttäuscht dreinblickenden Augen. Was mir auffällt, sind ihre erstaunlich schlanken Beine; sie altern von oben nach unten, diese Frauen, denn diese Beine, die immer ein ganz klein bisschen krumm sind, hatten sie wohl auch schon mit zwanzig oder noch davor. Sie interessieren sich für mich, das ist keine Frage. Vielleicht ist es dieser Hauch von Commedia-dell’arte in meinem Äußeren, der sie anspricht, das blitzende Auge – nur eines – und der komisch hinkende Gang, mit Krückstock und Hut anstatt, wie Harlekin, mit Knüppel und Maske. Mag sein, sie halten mich für verrückt, was sie jedoch nicht zu stören scheint. Aber ich bin nicht verrückt, wirklich nicht, nur sehr, sehr alt. Ich fühle mich, als lebte ich schon seit Äonen. Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine Art Urfinsternis mit kalten, harten Lichtflecken darin, unendlich weit entfernt, voneinander – und von mir. Bald, in wenigen Monaten, beginnt das letzte Jahrzehnt dieses Jahrtausends: das nächste werde ich nicht mehr erleben, was irgendwie bedauerlich ist, haben doch die beiden vorigen so viel Großartiges hervorgebracht, so viel Erfreuliches.

Ja, ich bin zurückgekehrt in diese Stadt mit ihren Arkaden, was vielleicht unklug war. Ich habe mir eine Wohnung gemietet in einer der kleinen Gassen unmittelbar am Duomo, in welcher, das verrate ich nicht, aus Gründen, die mir selber nicht ganz klar sind, obwohl ich zugegebenermaßen in regelmäßigen Abständen Angst habe, die Polizei könnte mir einen Besuch abstatten. Nichts Besonderes, mein Schlupfloch, ein paar Zimmer, niedrige Decken, dumpfig; die Fenster sind so klein und schmutzig, dass ich den ganzen Tag die Tischlampe brennen lassen muss, damit ich nicht im Halbdunkel über irgendetwas falle. Ich möchte nicht, dass man mich hier tot auffindet, die Tür gewaltsam geöffnet wird, meine Vermieterin schreit und ich in wer weiß was für einem derangierten Zustand. Sie – meine Vermieterin – quella strega! – ist Witwe und entschieden theatralisch veranlagt. Sie erzählt mir, dies hier sei das ehemalige Rotlichtviertel der Stadt, und wirft mir einen Blick zu, über dessen Bedeutung ich nicht weiter spekulieren mag, reißt die Augen auf und wirft den Kopf weit in den Nacken, sodass ich das Innere ihrer Nasenhöhlen sehen kann, was nicht gerade appetitlich ist. Ich hatte schon immer die Befürchtung, dass ich einmal so enden würde: ein Ausgestoßener, der durch die abgelegenen Seitenstraßen irgendeiner anonymen Stadt hinkt, der Selbstgespräche führt und von den Leuten auf der Straße angeglotzt wird. Und doch habe ich beschlossen, hierher zurückzukehren, wenn auch gewiss nicht aus Zuneigung. Denn Turin mit seinem ganzen Marmor, den Monumenten, den posierenden Statuen gleicht vor allem einem großen, grandiosen Friedhof; kein Wunder, dass der arme N. hier den Verstand verloren hat und sich für einen König hielt, für den Vater von Königen, und dass er hier in diesen Straßen stehen blieb und einen Droschkengaul umarmte. Auch sein Gepäck war verloren gegangen, genau wie meines einmal, nach Sampierdarena hat man seine Sachen geschickt, als er in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war; seitdem begann er jedes Mal, wenn er den melodischen Namen der Stadt vernahm, wütend zu knurren.

Aber genug der Flausen. Ich stehe im Begriff, mich zu erklären, mir selber, meine Liebe, und auch dir, denn wenn du zu mir reden kannst, dann kannst du mich gewiss auch hören. Ruhig, leise, ohne den schwülstigen Stil und Gestus, der mir ansonsten eigen ist, werde ich nur von dem sprechen, was ich weiß, wofür ich mich verbürgen kann. Gleich reckt der Zweifel, der Polyp, sein dreistes, widerwärtiges Haupt: was weiß ich denn? Für was kann ich mich denn verbürgen? Es gibt weder ‚Geist’, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktion ... stellt der verrückt gewordene Philosoph fest und schwingt seinen mächtigen Hammer. Und doch geistert mir die Idee im Kopf herum, dass ich noch eine letzte Chance bekommen soll, etwas von mir zu erretten. Ich rede nicht von der Seele, so weit ist meine Senilität denn doch nicht fortgeschritten. Aber vielleicht gibt es ja noch irgendeine kleine Kostbarkeit, die ich zurückkaufen kann, wie Mama Vanders silbernes Pillendöschen, das ich damals vom Pfandleiher zurückgekauft habe. Auf einmal frage ich mich, ob das nicht etwa deine wahre Absicht gewesen ist, ob du also gar nicht vorgehabt hast, mich bloßzustellen und dir damit einen Namen zu machen, sondern mir die Möglichkeit der Errettung auftun wolltest. Wenn dem so ist, dann hast du eines schon erreicht: Das Wort Errettung hat in meinem Wortschatz bislang eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Andererseits habe ich deine Beweggründe nie durchschaut, genauso wenig wie du selbst, vermute ich. Vielleicht hast du mich tatsächlich getäuscht, und in einem finsteren Winkel der Gelehrtenwelt speien demnächst die Druckerpressen ein Machwerk aus, einen posthumen Essay von dir über mich, und dann werden sie mich schmähen, auslachen, mit Buhrufen aus dem Hörsaal jagen. Nun gut, macht nichts.

John Banville (geb. 1945)

© 2004 Kiepenheuer & Witsch

Aus: John Banville, Caliban (engl. Shroud ), Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2004. ISBN 3-462-03364-6

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