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Leseprobe aus
Benjamin Black (alias John Banville), Nicht frei von Sünde
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2007

 


Quirke grauste es nicht vor den Toten, sondern vor den Lebenden. Als er lange nach Mitternacht in die Pathologie kam und Malachy Griffin dort sah, lief ihm ein Schauer den Rücken hinunter, ein ahnungsvoller Schauer, wie sich bald erweisen sollte, eine bebende Vorahnung künftiger Kümmernisse. Malachy saß in Quirkes Zimmer am Schreibtisch. Quirke blieb in der unbeleuchteten Leichenhalle stehen, zwischen all den verhüllten Körpern auf ihren Bahren, und beobachtete ihn durch die offene Tür, wie er dort saß mit seiner Nickelbrille, mit dem Rücken zu ihm, konzentriert nach vorn gebeugt, die linke Gesichtshälfte ins Licht der Schreibtischlampe getaucht, das sein Ohr in wütendem Hellrot glühen ließ. Vor sich auf dem Tisch hatte er eine aufgeschlagene Akte, in die er mit eigentümlich linkischen Bewegungen etwas hineinschrieb. Was Quirke mit Sicherheit noch mehr befremdet hätte, wenn er nicht betrunken gewesen wäre. Der Anblick weckte bei ihm eine Erinnerung an ihre gemeinsame Schulzeit, verblüffend deutlich: Malachy zwischen fünfzig anderen ernsthaften Schülern in einem großen, mucksmäuschenstillen Klassenzimmer in der Schulbank sitzend, in genau der gleichen konzentrierten Haltung, eifrig über einen Prüfungsaufsatz gebeugt, und durch ein Fenster irgendwo oben, über ihm, fiel schräg ein Sonnenstrahl auf ihn. Auch diesen glatten Seehundkopf mit dem öligen, sorgsam gekämmten und gescheitelten schwarzen Haar hatte er immer noch.
Als Malachy spürte, dass jemand hinter ihm war, drehte er sich um und blinzelte ins schattige Dunkel der Leichenhalle. Quirke wartete einen Augenblick, dann trat er leicht schwankend ins Licht der Türöffnung.
"Quirke", sagte Malachy sichtlich erleichtert, als er ihn erkannte, und gab ein ärgerliches Stöhnen von sich. "Meine Güte."
Malachy war in Abendgarderobe, allerdings nicht so zugeknöpft wie gewöhnlich, er hatte die Krawatte gelockert, und an seinem weißen Hemd stand der Kragenknopf offen. Quirke musterte ihn, während er seine Taschen nach Zigaretten absuchte; ihm entging nicht, wie Malachy eilig den Unterarm über die Akte schob, um sie zu verstecken, und da fühlte er sich gleich noch einmal an die Schulzeit erinnert.
"So spät noch bei der Arbeit?", sagte Quirke und grinste hintersinmg, denn der Alkohol verleitete ihn dazu zu glauben, dass dies eine außerordentlich geistreiche Bemerkung gewesen sei.
"Was machst du denn hier?", entgegnete Malachy etwas zu laut und ohne auf die Frage einzugehen. Mit einer kurzen Bewegung des Zeigefingers schob er sich die Brille auf dem feuchten Nasenrücken hoch. Er war nervös. Quirke zeigte zur Decke.
"Party", sagte er. "Da oben."
Malachy setzte seine Facharztmiene auf und legte gebieterisch die Stirn in Falten. "Party? Was denn für eine Party?"
"Brenda Ruttledge", sagte Quirke. "Eine von den Krankenschwestern. Abschiedsfeier."
Malachys Stirn bekam noch tiefere Falten. "Ruttledge?"
Quirke hatte plötzlich keine Lust mehr. Er fragte Malachy, ob er eine Zigarette haben könne, denn seine eigenen hatte er anscheinend doch nicht bei sich, aber Malachy überhörte auch diese Frage. Er stand auf, nahm schwungvoll die Akte an sich und versuchte immer noch, sie unterm Arm zu verstecken. Quirke musste sich richtig anstrengen, damit er den Namen entziffern konnte, der in großen, handgeschriebenen Lettern über den Ordnerrücken kroch: Christine Falls. Malachys Füllfederhalter lag auf dem Schreibtisch, ein dicker, schwarz glänzender Parker, garantiert mit Goldfeder, zweiundzwanzig Karat, wenn nicht sogar noch mehr; Malachy hatte ein Faible für protzige Sachen, das war eine von seinen Schwächen.
"Wie geht's Sarah?", fragte Quirke. Er ließ sich schwer zur Seite fallen, bis seine Schulter am Türrahmen Halt fand. Ihm war schwindlig, rings um ihn herum flackerte alles, und sämtliche Gegenstände hatten so einen komischen Linksdrall. Er war in dem Stadium, wo er bereute, dass er zu viel getrunken hatte, und gleichzeitig wusste, dass ihm nichts weiter übrig blieb als abzuwarten, bis die Wirkung nachließ. Malachy stand mit dem Rücken zu ihm und legte den Ordner in ein Fach des hohen grauen Aktenschranks.
"Der geht's gut", sagte Malachy. "Wir waren bei einem Rittermahl. Ich hab sie mit dem Taxi nach Hause geschickt."
"Ritter?", fragte Quirke begriffsstutzig und riss die Augen auf.
Malachy drehte sich zu ihm herum, sein Blick hinter den blitzenden Brillengläsern war leer und ausdruckslos.
"Na, vom St.-Patrick's-Orden. Tu doch nicht so, als ob du nicht Bescheid weißt."
"Ach so", sagte Quirke. "Ja, richtig." Er sah aus, als musste er sich mühsam das Lachen verkneifen. "Wie dem auch sei", sagte er, "um mich geht's ja gar nicht, was treibst du eigentlich hier unten bei den Toten?"

Benjamin Black, alias John Banville (geb. 1945)
© 2007 Kiepenheuer & Witsch
Aus: Benjamin Black, Nicht frei von Sünde (engl. Christine Falls), Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2007. ISBN 978-3-462-03768-5

John Banville stammt aus Wexford, Irland, und lebt in Dublin. Er gehört nicht nur zu den bedeutendsten europäischen Erzählern unserer Zeit, sondern ist außerdem Literaturredakteur bei der Irish Times. Seine historischen Romane Kepler und Doktor Kopernikus sind im S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, als Taschenbuchausgaben erschienen (Übersetzung: Bernhard Robben). Das Buch der Beweise (engl: The Book of Evidence; übersetzt von Dorle Merkel) und Athena (übersetzt von Lilian Faschinger), beide Kiepenheuer & Wisch, Köln, bilden den ersten und letzten Teil von Banvilles sogenannter MÖRDERTRILOGIE, deren Mittelstück der von mir übersetzte Roman Geister ist.

Weitere Leseproben aus Banville:
Der Unberührbare
Caliban

Geister
Sonnenfinsternis
Die See

 


 

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