Neuübersetzen - warum und wie?
Eine Erwiderung, nicht nur auf Felix Philipp Ingold
Von Christa Schuenke
Unter der Überschrift "Jede Neuübersetzung
ist eine Nachübersetzung" beantwortet Felix Philipp Ingold
sich selbst und den Lesern der NZZ die interessante Frage, wie literarische
Übersetzer mit der Arbeit ihrer Vorgänger umgehen könnten
(http://www.nzz.ch/nach-richten/medien/jede_neuuebersetzung_ist_eine_nachuebersetzung_1.562028.html).
Man darf wohl annehmen, dass diese Frage den Lesern der NZZ schon
lange auf den Nägeln brennt, und die literarischen Übersetzer
als unmittelbar Betroffene haben natürlich geradezu nach Antworten
gedürstet. Etwas verunsichert bin ich als eine der Betroffenen
freilich durch den Konjunktiv könnten, wo ich mir verbindliche
Maximen erhofft hätte. Doch Ingold hält die Dinge in der
Schwebe, was mich einen Moment lang gar vermuten ließ, er könne
seine Empfehlungen ironisch gemeint haben, und sein Artikel sei in
Wahrheit eine Glosse. Aber eine Glosse zu einem für praktizierende
Übersetzer zwar ernsten, für die meisten anderen jedoch
eher entlegenen Thema? Kaum vorstellbar. Also muss ich dem Konjunktiv
misstrauen und nehme den Verfasser beim Wort .
Die Frage heißt: Wie können literarische Übersetzer
mit der Arbeit ihrer Vorgänger umgehen? Und Ingolds die Antwort:
Indem sie sich freiweg bei ihnen bedienen und einfach ideale Lösungen
aus älteren Übersetzungen in ihre eigenen übernehmen.
Denn Neuübersetzer seien sowieso nur Nachübersetzer, was
sie natürlich nicht gerne hören wollten. Wozu sollen sie
sich also selber Lösungen ausdenken, die doch nur schlechter
sein können als das bereits vom Vorgänger gefundene Ideal?
Ingold zitiert in diesem Zusammenhang das Beispiel des britischen
Tonmeisters und Hochstaplers William Barrington-Coupe, der seine Frau
Joyce Hatto mittels geschickter Zusammenschnitte aus allen möglichen
Konzerteinspielungen sämtlicher bedeutender Pianisten des zwanzigsten
Jahrhunderts zur "komplettesten' aller lebenden Interpreten"
hochgeklittert hatte.
Und wer wollte Ingolds Motto "Von allem das Beste" widersprechen,
wird doch jeder literarische Übersetzer stets bestrebt sein,
dem Original sowie dessen Verfasser, aber auch den Lesern aufs Beste
gerecht zu werden. Der Haken ist nur, würde man Ingolds Ratschlag
befolgen und bei Klassiker-Neuübersetzungen fortan konsequent
nach dem Hatto-Prinzip verfahren, dann würde man gar keine Neuübersetzer
mehr brauchen. Ein Medley von Ideallösungen aus verschiedenen
schon vorhandenen Übersetzungen kann sich der mündige Leser
schließlich auch allein zusammenstellen.
Ich als notorische Neuübersetzerin (u. a. zweier von Ingold explizit
genannter Werke, nämlich sämtlicher Shakespeare-Sonette
und des Romans Gullivers Reisen von Jonathan Swift) mag mich in der
Tat ungern als Nachübersetzerin bezeichnen lassen, und ebenso
ungern sehe ich tatenlos zu, wenn einer mich und meinesgleichen überflüssig
machen will. Darum melde ich entschieden Widerspruch an. Quasi in
jedem Punkt.
Ingold macht zwei Gründe aus, weshalb manche Werke der Weltliteratur
immer wieder neu übersetzt werden: "Entweder geht es darum,
bereits vorliegende Übersetzungen philologisch auf Fehler oder
Auslassungen im Text zu überprüfen, sie also zu revidieren,
oder es besteht das Bedürfnis nach weitergehender stilistischer
Bereinigung beziehungsweise nach Anpassung eingedeutschter Vorlagen
an zeitgenössische Lektüreerwartungen." Schon dieser
Dualismus scheint mir am Wesen der Sache vorbeizugehen. Der Grund,
weshalb ein Verlag ein klassisches Werk neu übersetzen lässt,
setzt sich in aller Regel eben aus diesen beiden von Ingold genannten
Überlegungen zusammen. Da gibt es kein Entweder-Oder, sondern
fast immer nur ein Sowohl-als-auch. Die älteren Übersetzungen
sind - bei allem Respekt für ihre Urheber, die mit bestem Wissen
und Gewissen das in ihrer Zeit Mögliche getan und dabei oft wahrhaft
Großes geleistet haben - in aller Regel sowohl philologisch
ungenau als auch formal, also stilistisch, nicht optimal. Hier ein
Beispiel, das dieses Sowohl-als-auch recht gut belegen sollte und
wohl keines Kommentars bedarf: Im VI. Kapitel des VIII. Buches von
Herman Melvilles Roman Pierre or The Ambiguities (Northwestern-Newberry
Edition, Bd. 7, S. 161) heißt es, als der junge Pierre Glendinning
an einem entscheidenden Wendepunkt steht: "An infixing stillness
now thrust a long rivet through the night, and fast nailed it to that
side of the world." Walter Webers Übersetzung von 1965 trägt
den Titel Pierre oder Im Kampf mit der Sphinx, und dieser an Wucht
und Expressivität kaum zu überbietende Satz heißt
dort auf S. 204 "Tiefe Stille durchdrang die Nacht und legte
sich wie eine weiche Mutterhand auf diesen Teil der Welt." Auf
S. 285 meiner 2002 bei Hanser erschienenen Neuübersetzung (die
unterschiedlichen Seitenzahlen ergeben sich aus den unterschiedlichen
Buchformaten, nicht etwa daraus, dass die eine Übersetzung konziser,
die andere aber geschwätziger wäre) lautet die Stelle: "Da
durchdrang ein Keil von Stille die Nacht und nagelte sie wie mit einem
langen Bolzen fest an diese Seite der Welt."
Ganz und gar abwegig scheint mir auch Ingolds Postulat, das Neuübersetzen
sei eher ein Bearbeiten bereits vorhandener Übersetzungen als
ein unmittelbares Sich-Auseinandersetzen mit dem Original. Ingold
geht gar so weit, den "Nachübersetzern" oder den Verlagen,
die sie beauftragen, zu unterstellen, sie wollten die Arbeit ihrer
Vorgänger zugunsten der eigenen Profilierung absichtsvoll aus
dem kollektiven Kulturgedächtnis tilgen. "Auch in diesem
Fall soll also schlicht ausgeblendet werden, was andere, frühere
Übersetzer zur Vermittlung und Erschließung von Dickinsons
Dichtung beigetragen haben", schreibt er mit Bezug auf Gunhild
Küblers Neuübersetzung einer umfangreichen Auswahl aus den
Gedichten der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson. Dem liegt
offenbar die ebenfalls irrige Annahme zu Grunde, dass das Ziel der
Neu- bzw. "Nachübersetzer" darin bestehe, "ältere
Fassungen zu ersetzen".
Der Grundfehler in Ingolds Argumentation ist wohl, dass er im Neuübersetzen
älterer Texte von weltliterarischem Rang eine "zum Trend
gewordene Tendenz" erkennt und dabei von der Tatsache absieht,
dass dieses Neuübersetzen in der europäischen Kultur auf
eine lange Tradition zurückblickt. So war George Chapman mit
seinen 1598-1616 entstandenen Übertragungen zwar der erste, der
den ganzen Homer ins Englische übersetzt hat, aber wohl nicht
der erste englische Homer-Übersetzer schlechthin. Seiner Übertragung
folgten bis zum heutigen Tage mindestens 100 (in Worten: einhundert)
englische Gesamt- oder Teilübersetzungen des Homer, manche in
Versen, andere in Prosa. Immerhin 17 Übersetzungen ins Französische
zählen wir von Dantes Göttlicher Komödie allein im
19. Jahrhundert, und von Shakespeares Sonetten gibt es mittlerweile
ca. 64 deutsche Komplettübersetzungen, wovon 49 in der Zeit zwischen
1857 und 1994 entstanden und 15 seit 1995. Hier könnte man vielleicht
noch am ehesten von einem Trend sprechen, wobei sich diese Dichtung
ihrer allgemeinen Thematik und ästhetischen Geschlossenheit wegen
wohl wie kaum eine andere als Vorlage auch für Hobbyübersetzer
eignet, die sich - nicht selten neben ihrer akademischen Alltagsfron
oder nach einem zumeist in literaturfernen Berufen zugebrachten Arbeitsleben
- endlich einmal den höheren Dingen zuwenden wollen. Zugleich
belebt eine so geradezu inflationäre Beschäftigung mit einem
einzigen Gedichtzyklus wiederum selber das Geschäft des Neuübersetzens
und gibt dann auch Übersetzern mit professionellerem Hintergrund,
etwa Dichtern oder "regelrechten" literarischen Übersetzern,
einen Impuls, sich übersetzend mit dem Werk auseinanderzusetzen,
so dass der Diskurs um ein solches Werk immer weitere Kreise zieht.
Der Begriff "Diskurs" ist mir in diesem Zusammenhang sehr
wichtig. In meinen Augen ist ein Original von weltliterarischem Rang
ein eigenes Universum, dessen Ergründung von den verschiedensten
Seiten her und mit den verschiedensten Mitteln und Techniken erfolgen
kann, wird und muss. Genau das - und nicht irgendwelche Trends - ist
nämlich der Grund, weshalb manche Werke der Weltliteratur immer
wieder neu übersetzt werden. Und was spricht dagegen, dass heutige
Neuübersetzer die Arbeit ihrer Vorgänger, der "Wegbereiter",
wie Ingold sie nicht zu Unrecht nennt, zur Kenntnis nehmen und sich
gründlich mit ihnen auseinandersetzen? Das hat nichts Anstößiges,
und niemand, der dies tut, muss das verheimlichen. Ganz im Gegenteil:
Es nicht zu tun, wäre aus meiner Sicht grob fahrlässig und
zeugte von mangelnder übersetzerischer Sorgfalt, denn natürlich
ist es wichtig, dass man sich nicht allein mit dem zu übersetzenden
Original beschäftigt, sondern auch mit der Wirkungsgeschichte,
die es in dem Sprach- und Kulturraum hat, in den es hineinübersetzt
werden soll. Wie Burkhart Kroeber im Nachwort zu seiner Neuübersetzung
von Alessandro Manzonis Promessi Sposi schrieb: "Ich bin nicht
so vermessen zu meinen, daß ich die Arbeit von mindestens fünfzehn
Vorgängern in mindestens 150 Jahren einfach ignorieren und gleichsam
aus dem Stand überbieten könnte. Aber ich denke an das berühmte
Diktum des Bernhard von Chartres, demzufolge man auch als Zwerg, wenn
man auf den Schultern von Riesen steht, weiter als diese zu sehen
vermag, und darum habe ich es für sinnvoll gehalten, die Errungenschaften
früherer Übersetzer zu sichten [...] und sie, wenn mir keine
bessere Lösung einfiel, in meine Version zu übernehmen.
Was ich dann auf diese Weise tatsächlich übernommen habe,
waren allerdings fast immer nur einzelne Wörter, hier und da
eine Wendung, kaum jemals ein ganzer Satz." So ähnlich dürften,
auch wenn sie es nicht explizit so ausdrücken, die meisten seriösen
"Nachübersetzer" verfahren. Denn zur Ergründung
des Universums, das jedes literarische Werk von Rang darstellt, gehört
neben der Erkundung des Originals ganz ohne Frage auch die Beschäftigung
mit den bereits vorhandenen Übersetzungen und die Lektüre
zumindest eines repräsentativen Teils der Sekundärliteratur.
Gerade bei der Lyrik geben die bereits vorhandenen Übertragungen
nicht selten den Impuls für weitere Übersetzungsbemühungen.
Doch geschieht das, anders als von Ingold insinuiert, weder bei Lyrik
noch bei Prosa mit dem Ziel, die älteren Übersetzungen sozusagen
weiterzuentwickeln, sie fortzuschreiben bis zu einer idealen Übersetzung,
die irgendwann, in endlos ferner Zukunft, zu erreichen wäre.
Jeder, der sich mit dem Übersetzen befasst, weiß, dass
es diese ideale Übersetzung nie geben kann, und auch der eitelste
Pfauenhahn, auch die pflichtvergessenste Selbstverwirklicherin unter
den Übersetzern, deren Amt doch eigentlich darin besteht, dem
Original treulich zu dienen, wird wohl kaum so töricht sein zu
glauben, dass seine/ihre eigenen Übersetzung eines bestimmten
Originals etwa der Weisheit letzter Schluss wäre. Nein, wenn
eine Übersetzung den schon vorhandenen in einigen Wendungen folgt,
so tut sie das nicht mit dem Ziel, diese "auszulöschen".
Übersetzungen bestehen nebeneinander, aber sie bestehen nicht
in Konkurrenz zueinander. Dem einen geht nichts über eine Prosaübersetzung
der Shakespeare-Sonette wie die 2006 im Verlag Jung & Jung erschienene
von Klaus Reichert. Der andere - ich zum Beispiel - zieht die formtreue
Versübersetzung vor. Zwar mag eine Übertragung in Prosa
die Informationen, die in einem Gedicht enthalten sind, genauer und
zuverlässiger wiedergeben als eine gereimte, um metrische Treue
bemühte Version, nur ist das Gedicht als solches eben nicht primär
ein Medium zur Vermittlung von Informationen, und eine Übersetzung,
die auf Reim und Metrum verzichtet, bedeutet immer die Zerstörung
des Gedichts. Diese Überlegung - und nicht etwa billiger Futterneid
und das Bestreben, einen "Konkurrenten" niederzumachen -
liegt auch meiner Kritik an Klaus Reicherts Prosaübersetzung
der Shakespeare-Sonette zu Grunde, und ich finde es befremdlich, wenn
eine Kollegin, die doch selbst eine ausgewiesene Neuübersetzerin
weltliterarisch bedeutsamer Werke aus dem Französischen ist,
diesen Zusammenhang nicht wahrnimmt.
Es ist ein hohes intellektuelles Vergnügen und eine überaus
reizvolle Beschäftigung, mit einem großartigen Original,
aber auch mit seinen Vorübersetzern Zwiesprache zu halten, sich
einzumischen in den Diskurs um dieses Original. Je mehr Übersetzerstimmen
sich in diesem Diskurs zu Wort melden, desto größer das
Vergnügen und desto größer auch die Ehre, die diesem
Werk gebührt und die wir ihm erweisen. Je mehr Übersetzer
sich seiner annehmen, aus den verschiedensten Blickwinkeln und Perspektiven,
um so länger wird das Original im Gespräch bleiben, um so
geringer die Gefahr, dass es in Vergessenheit gerät. Doch das
heißt nicht, dass jede Übersetzung jedem gleich gut gefällt;
es bedeutet nicht, dass es nicht auch unter den verschiedenen Neuübersetzern
ganz erhebliche Meinungsunterschiede geben kann. Schon die Motive,
aus denen sich verschiedene Übersetzer der Mühe unterziehen,
ihren Beitrag zu diesem Diskurs zu leisten, werden sich wohl unterscheiden.
Für mich ist immer die Frage ausschlaggebend, welche konkrete
Idee ich von einem Original habe, welches Bild, das sich abhebt von
den Vorstellungen, den Bildern, die andere Übersetzer haben oder
hatten. Erkenne ich zwischen den Positionen meiner Vorgänger
und meinen eigenen keine nennenswerten Unterschiede, so gibt es für
mich keinen Grund, ein Werk neu zu übersetzen. Und allein schon
daraus folgt, dass ich nicht Gefahr laufe oder auch nur in die Versuchung
gerate, eine besonders gelungene Lösung eines meiner Vorgänger
zu übernehmen oder zwanghaft zu umgehen.
Jeder, der den Raben von Edgar Allan Poe übersetzt, jenes vertrackte
Langgedicht, das längst zum Kultstatus avanciert ist, steht vor
der Frage, ob er für das berühmte nevermore eine andere
Lösung suchen sollte als nimmermehr. Und jeder, der Gullivers
Reisen neu übersetzt, wird überlegen, ob er für die
Yahoos und die Houynhnhms nicht lieber neue Namen erfinden sollte.
Ich habe beide Werke neu übersetzt und mich entschlossen, beide
Male die tradierten Lösungen beizubehalten, denn mein Interesse
bei diesen Übersetzungen war nicht, um jeden Preis originell
zu sein, sondern meinen Beitrag zum Diskurs zu leisten und meine Vorstellung
von diesen Texten übersetzend in Worte zu fassen. Etwas anders
lag die Sache bei einem ganz bestimmten Reimwort in Hans-Werner Sundermanns
Übersetzung des Raben, nämlich bei dem Wort "Fingerknochen".
Das fand ich sowohl klanglich als auch von der Silbenzahl, vor allem
aber der verbundenen Assoziation wegen, so genial, dass ich es nicht
nur gern übernommen und dem Vorübersetzer Sundermann in
einer Danksagung meine Reverenz erwiesen, sondern auch wiederholt
öffentlich vorgeschlagen habe, dieses Wort gleichsam zu kanonisieren,
auf dass es in allen künftigen Übersetzungen des Raben immer
wieder verwendet werde.
Im übrigen ist doch das Ziel einer jeden Übersetzung stets
und immer, ganz gleich, ob es sich um die Erstübersetzung eines
Unterhaltungsromans oder um die zweiunddreißigste Übertragung
eines Werks der Weltliteratur handelt, einen Text in all seinen Schichten
und Facetten wiederzugeben. Ein Text besteht aber nicht aus einer
Aneinanderreihung noch so idealer Einzellösungen (denn das, verehrter
Herr Kollege Ingold, würde, das könnte ja nichts anderes
ergeben als Frankensteinsche Sprachmonster!), sondern ein Text setzt
sich zusammen aus verschiedenen Ebenen, die miteinander korrespondieren.
Er ist ein Gefüge, ein Ganzes, in das man nicht beliebig das
eine oder andere brillante Wort, den einen oder anderen idealen Satz
aus irgendwelchen Vorgängerübersetzungen einflicken kann.
Was dabei herauskäme, wäre einfach nur Flickwerk - genauso
seelen- und charakterlos wie die manipulierten Einspielungen auf den
Hatto-CDs.