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Leseprobe aus

Opal Whiteley, Die wundersame Welt der Opal Whiteley
Aus: . Tagebuch eines sehenden Herzens (engl.: Opal's Diary),
Pforte Verlag 2005

 


Hinterm Haus gibt's ein paar nette Waldratten. Die schönste von allen heißt Thomas Chatterton Jupiter Zeus. Und beim Holzschuppen fließt ein kleiner Bach. Der singt die ganze Zeit. Sein Freudenlied, das singt in meinem Herz. Unter dem Haus wohnen die Mäuse. Die füttere ich immer mit Brotkrümeln. Draußen unter der Treppe wohnt ein Kröterich. Der ist mein Freund. Dem hab ich ebenfalz einen Namen gegeben. Und der Name, der mir für ihn einfiel, heißt Lukian Horaz Ovid Vergil.
Zwischen dem Ranchhaus und dem Haus, wo wir drin wohnen, ist der singende Bach, wo die Weiden stehen. Mit dem plaudere ich immer so schön. Und bei den Weiden plansche ich immer mit den Zehen im Wasser. Dann fühl ich genau die gleichen Freudengefühle, die sie selber fühlen. Und wenn ich von den Weiden komme, geh ich oft zu der Stelle, wo sich die Straßen treffen. Das ist gar nicht weit weg, direkt am Ranchhaus. Aber in Wirklichkeit treffen sich die Straßen überhaupt nicht, sondern das ist einfach bloß die Stelle, wo die eine Straße drei verschiedene Wege geht.
Der eine geht zu dem Haus von Sadie McKibben. Einklich geht er sogar noch weiter, ich aber meistens nicht. Der Weg, den die Straße da geht, der geht bis in die Sägemühlenstadt, das ist noch ein ganzes Stück hin. Und auf ihrem Weg geht sie über einen kleinen Berg. Manchmal, wenn Sadie McKibben nicht zu Hause ist, steig ich mit dem Tapferen Horatius ganz bis rauf auf den Berg. Und von da oben schauen wir dann hinab auf die Sägemühlenstadt. Und dann machen wir kehrt und gehen wieder nach Hause. Unterwegs schauen wir immer bei Sadie McKibben rein. Ihr Haus steht gleich neben der Sägemühle am fernen Wald. Die Sägemühle, die macht einen Haufen Krach. Die kann zwei Sachen auf einmal machen. Sie macht Krach, und gleichzeitig zersägt sie Baumstämme zu Brettern. An der Sägemühle wohnen Leute, meistens Männer. Da wohnt auch der nette Mann, der immer ein graues Halstuch umhat und gut zu Mäusen ist.
Der zweite Weg, den die Straße geht, der geht so, wie ich gehe, wenn ich zur Schule gehe. Und von der Schule aus geht sie immer weiter geradeaus, bis zu dem Haus, wo das Mädchen drin wohnt, das nichts sieht. Dort angekommen, macht sie einen Knick und geht dann weiter und weiter hinauf, bis rauf in die blauen Berge. Sie geht immer neben der rivière einher, die singend von den blauen Bergen runterkommt. Manch singender Bach fließt auch mehr so hinein in die rivière. Die singenden Bäche und ich, wir sind Freunde. Ich nenne sie Orne und Loing und Yonne und Rille und Essonne.
Dicht an der Straße, zwischen den Bächen, sind Ranchhäuser verstreut. Ich kenn zwar nicht die Leute, die da drin wohnen, aber ich kenne ein paar von den Kühen und Pferden und Schweinen auf ihren Weiden und in ihren Ställen. Alles sehr freundliche Gesellen. Rundherum um die Ranchhäuser sind Felder. Wo früher mal Wald war, da wachst heute Korn. Wenn die Schnitter das Korn abmähen, dann mähen sie auch die Kornblumen mit ab, die da wachsen auf dem Feld, und dann lauf ich hinterher und heb sie auf. Und ein paar davon nehm ich mit nach Haus und mach eine Girlande daraus.
Wenn die Girlande fertig ist, schling ich sie William Shakespeare um den Hals. Der hat einen Sinn für solche Sachen. Und wenn wir dann zusammen den Gartenweg entlangspatzieren, tu ich ihn darüber infrommieren, nach wem er benannt ist. Und er versteht mich. Er ist ein ganz besonders schönes graues Pferd, und er hat so eine sanfte, nette Art. Und er hat die kleinen Berge hinter den Feldern genauso gern wie ich - die kleinen Berge, wo die Schienen von der Eisenbahn gehen und wo die hohen Tannenbäume sind, die genauso hoch sind und genauso schön wie die, die an der Straße stehen.

Opal Whiteley, geb. 1897
© 2005 Pforte Verlag
Aus: Die wundersame Welt der Opal Whiteley. Tagebuch eines sehenden Herzens (engl.: Opal's Diary), Pforte Verlag 2005; 355 S.; 19,00 €; ISBN 3-85636-164-2
Opal Whiteley wuchs in einem Holzfällercamp in Oregon auf, hielt sich aber für ein Adoptivkind und behauptete, die Tochter des französischen Forschers Henri d'Orléans zu sein. Ihr Kindheitstagebuch begann sie im Alter von sechs Jahren.


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