Leseprobe aus
Herman Melville, Maskeraden oder
Vertrauen gegen Vertrauen.
Achilla Presse, Hamburg und Bremen, 1999; btb, 2001
29. Kapitel: Die lustigen Zechgenossen
Nachdem der Wein – Portwein – bestellt war und die beiden an dem
Tischchen Platz genommen hatten, trat ganz von selber eine feierlich-erwartungsvolle
Pause ein; der Fremde ließ den Blick zur nahen Theke schweifen,
er sah dem rotwangigen, weißbeschürzten Mann zu, der dort
munter die Flaschen abstaubte und einladend Servierbrett und Gläsern
bereitstellte; dann wandte er sich, einer plötzlichen Eingebung
folgend, seinem Gefährten zu und sprach: »Unsere Freundschaft,
das ist doch eine Freundschaft auf den ersten Blick, nicht wahr?«
»Ganz recht«, war die stillvergnügte Antwort, »und
für Freundschaft auf den ersten Blick gilt dasselbe wie für
Liebe auf den ersten Blick: sie ist die einzig wahre, einzig noble Freundschaft.
Denn sie zeugt von Vertrauen. Wer würde schon auf seiner Suche
nach Liebe und nach Freundschaft blindlings, wie ein fremdes Schiff
bei Nacht, einen feindlichen Hafen ansteuern?«
»Ganz recht. Nur immer tapfer vor dem Wind. Freut mich, daß
wir in allem einer Meinung sind. Übrigens, es ist zwar nur eine
Formsache, aber Freunde sollten einander doch mit Namen kennen. Darf
ich fragen, wie Sie heißen?«
»Francis Goodman. Aber meine Freunde nennen mich Frank. Und Sie?«
»Charles Arnold Noble. Aber sagen Sie einfach Charlie zu mir.«
»Das will ich gern tun, Charlie; was könnte schöner
sein, als wenn man sich die brüderlichen Vertraulichkeiten der
Jugend bis ins Mannesalter bewahrt. Da zeigt es sich, daß man
im Herzen jung geblieben ist.«
»Auch darin fühle ich genau wie Sie. – Ah!«
Dieser Ausruf galt dem lächelnden Kellner, der jetzt mit der gleichfalls
lächelnden, entkorkten Flasche kam, einer gewöhnlichen Quartflasche,
deren unteres Ende man zur Feier des Tages in ein Körbchen aus
Baumrinde gesetzt hatte, welches lustig nach Indianermanier mit gefärbten
Stachelschweinborsten durchflochten war. Als sie vor dem Gastgeber stand,
betrachtete dieser sie mit wohlwollendem Interesse, schien indes nicht
zu verstehen oder gab sich womöglich auch bloß den Anschein,
als verstünde er nicht, was das hübsche rote Etikett bedeuten
sollte, das auf der Flasche klebte und auf dem die Lettern P.W. standen.
»P.W.«, sagte er endlich, während er das gefällige,
aber rätselhafte Schild irritiert beäugte, »Was dieses
P.W. wohl heißen mag?«
»Sollte mich nicht wundern«, versetzte der Kosmopolit mit
ernster Miene, »wenn es für Portwein stünde. Sie haben
doch Portwein bestellt, oder nicht?«
»Doch, das ist es, das ist es!«
»Kleine Geheimnisse kläre ich mitunter beinahe mühelos
auf«, sprach der andere und schlug gelassen die Beine übereinander.
Dem Fremden schien diese Floskel entgangen zu sein, denn ganz mit seiner
Flasche beschäftigt, streichelte er dieselbe nun mit seinen einigermaßen
bleichen Händen und rief mit einem sonderbaren Kichern, das als
Ermunterung gemeint war: »Ein guter Wein, ein guter Wein, das
ist ja doch die wahre Garantie, daß man sich wohl fühlt,
hab ich recht?« Dann goß er beide Gläser voll bis zum
Rand, schob eines über den Tisch und sagte dabei mit einer Miene,
die wohl gelinde Verachtung ausdrücken sollte: »Zur Hölle
mit all den jämmerlichen Zweiflern, die behaupten, daß man
heutzutage keinen reinen Wein mehr zu kaufen bekäme, daß
beinahe jede feilgebotene Marke weniger die Frucht der Weinberge als
vielmehr der Laboratorien sei, daß die Schankwirte in ihrer Mehrzahl
nur eine Bande von männlichen Marquises de Brinvilliers seien,
die ihren besten Freunden, den Kunden, mit allerlei zierlich verbrämten
Schlichen nach dem Leben trachteten.«
Die Miene des Kosmopoliten verdüsterte sich. Er sinnierte ein paar
Augenblicke lang schwermütig vor sich hin, hob dann den Blick und
sagte: »Ich bin seit langem der Ansicht, mein lieber Charlie,
daß die Geisteshaltung, mit der heute nur allzu viele Leute dem
Wein begegnen, eines der bedrückendsten Beispiele für mangelndes
Vertrauen ist. Sehen Sie sich doch bloß mal diese Gläser
hier an. Wer argwöhnt, daß in solchem Weine Gift sein könnte,
je nun, der mag wohl auch den Argwohn hegen, in Hebes Wangen könnt
die Schwindsucht sein. Und was den Argwohn gegen die Weinhändler
und Schankwirte angeht, so können diejenigen, die einen solchen
Argwohn hegen, doch nur begrenztes Vertrauen zum menschlichen Herzen
haben. Diese Leute müssen glauben, jedes menschliche Herz gleiche
mehr oder minder einer Flasche Port, aber nicht einem Port wie diesem
hier, sondern einem, wie sie ihn sich vorstellen. Merkwürdige Verleumder
sind das, die kein Ding, und sei es noch so heilig, für echt halten.
Sie nehmen nichts aus, auch nicht die Medizin und nicht einmal den Meßwein.
In ihren Augen ist der Doktor mit seiner Phiole ebenso wie der Priester
mit seinem Abendmahlkelch nur einer, der dem Sterbenden gedankenlos
die falsche Herzensstärkung gibt.«
»Entsetzlich!«
»Entsetzlich, in der Tat«, versetzte der Kosmopolit steif.
»Diese argwöhnischen Wichte bohren ihren Dolch dem Vertrauen
mitten ins Herz. Wenn dieser Wein« - indem er beschwörend
sein volles Glas in die Höhe hielt - »wenn dieser Wein mit
seiner strahlenden Verheißung nicht echt ist, wie soll der Mensch,
dessen Verheißung nicht strahlender sein könnte, dann echt
sein? Wenn aber der Wein falsch wäre und die Menschen wären
echt, wohin entschwände dann wohl die gesellige Heiterkeit? Nicht
auszudenken, daß zwei aufrichtige, heitere Seelen ahnungslos mit
heimtückischen, mörderischen Essenzen auf ihre Gesundheit
tränken!«
»Grauenvoll!«
»Viel zu grauenvoll, um wahr zu sein, Charlie. Vergessen wir das.
Na, was ist? Sie wollten doch heute mein Gastgeber sein, und nun trinken
Sie mir gar nicht zu. Ich warte schon die ganze Zeit.«
»Oh, Pardon, Pardon« - indem er halb verlegen, halb großspurig
sein Glas erhob. »Ich trinke auf Sie, Frank, von ganzem Herzen,
glauben Sie mir das.« Er tat einen Zug, zu züchtig, um tüchtig
genannt zu werden, der ihm trotz seiner Winzigkeit sogleich und unwillkürlich
den Mund ein wenig schiefzog.
»Und ich erwidere das Prosit mit der gleichen Herzenswärme,
mit der das Ihre mir entgegenkam, Charlie, und meine Redlichkeit ist
so echt wie der Wein, mit dem ich es tue«, gab der Kosmopolit
mit einer Geste fürstlichen Wohlwollens zurück, worauf er
einen großzügigen Schluck nahm, der in einem vernehmbaren
Schmatzen verklang, das gleichwohl nicht vernehmbar genug war, um unschicklich
zu sein.
»Da wir gerade von angeblich verfälschten Weinen reden«,
sprach er, indem er leise sein Glas absetzte und den Kopf in den Nacken
legte, um den Wein mit freundlich-festem Blick ins Auge zu fassen, »die
vielleicht merkwürdigste von all diesen Behauptungen ist die, es
gäbe Menschen, die in der Überzeugung lebten, daß die
meisten Weine auf diesem Kontinent verfälscht seien, und die dennoch
weiterhin Wein tränken, weil sie fänden, Wein sei etwas so
Köstliches, daß selbst ein verfälschter besser sei als
gar keiner. Und wenn die Temperenzler ihnen vorhielten, sie gefährdeten
mit diesem Treiben früher oder später ihre Gesundheit, dann
würden sie darauf antworten: "Denkt ihr, das weiß ich nicht?
Aber Gesundheit ohne Frohsinn find ich fad, und Frohsinn, selbst wenn
er von der falschen Sorte ist, hat seinen Preis, den ich gern zahlen
will."«
»Ein solcher Mensch, mein lieber Frank, muß ja ein unbezwingbar
bacchantisches Naturell haben.«
»Ja, falls es einen solchen Menschen gibt, was ich nicht glaube.
Das Ganze ist eine Fabel, aber eine, aus der ich einmal jemanden, der
weniger geistreich als vielmehr wunderlich war, eine Moral ableiten
hörte, die noch ungereimter war als die Fabel selber. Der Mann
hat nämlich gesagt, sie sei gewissermaßen ein Gleichnis dafür,
wie ein Mensch von unbezwingbar gutmütigem Naturell sich vertraulich
zu anderen Menschen gesellen könne, obwohl er gleichzeitig davon
überzeugt sei, daß die Menschen in ihrer Mehrzahl ein falsches
Herz hätten, weil die Geselligkeit für ihn so köstlich
ist, daß sie ihm selbst dann noch besser dünkt als keine,
wenn’s eine von der falschen Sorte ist. Und wenn die Anhänger von
La Rochefoucauld ihnen vorhielten, daß sie mit diesem Treiben
früher oder später ihre Sicherheit gefährdeten, dann
würden sie darauf erwidern: "Denkt Ihr, das weiß ich nicht?
Aber Sicherheit ohne Geselligkeit find ich fad; und Geselligkeit, selbst
wenn sie von der falschen Sorte ist, hat ihren Preis, den ich gern zahlen
will!"«
»Eine höchst sonderbare Theorie«, versetzte der Fremde
mit leichtem Unbehagen und faßte seinen Gefährten einigermaßen
forschend ins Auge. »Wahrhaftig, Frank, ein überaus schändlicher
Gedanke«, rief er, plötzlich in Wallung geraten, und verzog
unwillkürlich das Gesicht, beinahe so, als ob er sich persönlich
beleidigt fühlte.
In gewisser Weise haben Sie mit dem, was Sie da sagen, durchaus recht,
und man könnte sogar noch weiter gehen«, erwiderte der andere
mit gewohnter Sanftmut, »aber weil in dem Ganzen wiederum auch
etwas Drolliges liegt, mag die Nächstenliebe wohl ein wenig über
die Verruchtheit hinwegsehen. Der Humor ist in der Tat ein solcher Segen,
daß manche Philosophen, wenn sich in der ruchlosesten Hervorbringung
des menschlichen Verstandes nur neun gute Späße finden lassen,
nachsichtig genug sind, um zu versichern, diese neun guten Späße
wögen alle lasterhaften Gedanken auf, und wären sie auch so
zahlreich wie in Sodom der Pöbel. Gleichviel, der Humor hat etwas
– wie soll man sagen – Wohltuendes an sich, er ist ein solches Allheilmittel,
ein solches Zauberelixier – fast alle Menschen sind sich darin einig,
daß er erquickend sei, sowenig sie sich auch ansonsten einig sind
-, und er bewirkt auf seine Art unleugbar alle Tage soviel Gutes in
der Welt; kein Wunder, daß es beinahe schon ein Sprichwort ist,
zu sagen, ein Mensch, der Humor habe, ein Mensch, der die Fähigkeit
besitze, recht von Herzen laut zu lachen - möge er auch in anderen
Dingen sein wie er wolle -, so einer könne schwerlich ein herzloser
Schuft sein.«
»Ha, ha, ha!« lachte der andere, indem er auf eine blasse,
zerlumpte Gestalt auf dem nächsttieferen Deck wies – einen Knaben,
dessen Erbarmungswürdigkeit durch ein ungeheuerliches Paar Stiefel,
augenscheinlich abgelegte Maurerstiefel, rissig von Trockenheit, halb
zerfressen vom Kalk und an den Spitzen nach oben gebogen wie ein Fagott,
durch dieses Schuhwerk also gewissermaßen einen Zug ins Komische
bekam. »Da, schauen Sie doch – ha, ha, ha!«
»Ich sehe«, sagte der Kosmopolit in scheinbar ruhig-abschätzendem
Ton, dem freilich anzumerken war, daß der Sprecher durchaus einen
Blick für das Groteske hatte, ohne dabei blind zu sein für
das, was im gegenwärtigen Fall damit einherging. »Ich sehe,
und die Art, wie Sie das bewegt, Charlie, kommt mir wie gerufen, um
das eben von mir erwähnte Sprichwort zu belegen. Ja, in der Tat,
wenn Sie absichtlich auf diese Wirkung ausgewesen wären, Sie hätten
sie nicht besser erzielen können. Denn muß, wer dieses Lachen
gehört hat, daraus nicht ebenso selbstverständlich auf ein
gesundes Herz wie auf gesunde Lungen schließen? Gewiß, es
steht geschrieben, daß einer lächeln kann, und immer lächeln,
und doch ein Schurke sein; aber es steht nicht geschrieben, daß
einer lachen kann, und immer lachen, und doch ein solcher sein, oder
sollte ich mich etwa irren, Charlie?«
»Ha, ha, ha! – Nein, nein, nein, nein.«
»Ja, Charlie, Ihre Lachsalven erhellen meine Bemerkungen fast
so trefflich wie das Feuerwerk des Chemieprofessors seine Vorlesung.
Doch selbst wenn die Erfahrung das Sprichwort nicht bestätigte,
daß einer, der gut lacht, kein schlechter Mensch sein kann, wär
ich, ganz im Vertrauen, bereit, daran zu glauben, weil‘s Volkes Stimme
ist, und im Volke hat es zweifellos auch seinen Ursprung und muß
daher wahr sein, denn Volkes Stimme ist der Wahrheit Stimme. Glauben
Sie das nicht auch?«
»Natürlich glaube ich das. Wenn die Wahrheit nicht durchs
Volk spricht, spricht sie gar nicht, hab ich einmal sagen hören.«
»Ein wahres Wort. Aber wir schweifen vom Thema ab. Die volkstümliche
Meinung, wonach der Humor die Lackmustinktur des Herzens ist, scheint
seltsamerweise bei Aristoteles bestätigt, der –glaube ich, in seiner
Politeia (übrigens ein Werk, das man, was man im großen
und ganzen auch davon halten mag, in Anbetracht des Tenors mancher seiner
Teile jungen Menschen nicht so ohne weiteres in die Hand geben sollte)
-, der also bemerkt, die unliebsamsten Männer in der Geschichte
seien dem Humor nicht allein mit Mißfallen begegnet, sondern gar
mit Haß; und dieses in manchen Fällen gepaart mit einem ungewöhnlich
derben Geschmack an handgreiflichen Späßen. Ich erinnere
mich, daß von Phalaris, dem launischen Tyrannen von Sizilien,
erzählt wird, er habe einmal einen armen Teufel auf einem Aufsteigblock
enthaupten lassen, und das bloß darum, weil der Kerl ein Pferdelachen
hatte.«
»Ein Witzbold, dieser Phalaris!«
»Ein grausamer Mann, dieser Phalaris!«
Es entstand eine Pause wie nach den Kanonenschlägen eines Feuerwerks,
und die zwei blickten betreten auf die Tischplatte, als seien sie, jeder
für sich, erschrocken über die Gegensätzlichkeit ihrer
Ausrufe und überlegten nun, was das wohl zu bedeuten hatte, falls
es denn überhaupt etwas bedeutete. So jedenfalls konnte man meinen;
und doch verhielt sich‘s offenbar nicht so, wenigstens bei einem von
den beiden nicht, denn plötzlich hob der Kosmopolit den Blick und
sprach: »Was die Moral betrifft, die komisch-zynische Moral, die
sich aus dem Treiben jenes selten bacchantisch veranlagten Burschen,
von dem wir vorhin sprachen, ableiten läßt, des Kerls, der
seine Gründe hatte, auch weiterhin verfälschten Wein zu trinken,
wohl wissend, daß der Wein verfälscht war, so haben wir hier,
möcht ich meinen, ein Beispiel für einen zweifellos verruchten,
aber doch mit Humor ersonnenen Gedanken. Und jetzt will ich Ihnen eines
dafür nennen, wie ein verruchter Gedanke aus einem verruchten Geist
entspringt. Sie sollen die beiden miteinander vergleichen und mir die
Frage beantworten, ob nicht die Schärfe in dem einen Fall durch
den Humor gemildert ist, und ob sie sich nicht in dem anderen just dadurch
frei entfalten kann, daß der Humor vollkommen fehlt. Ich hab einmal
gehört, wie ein schlagfertiger Bursche, einer, der bloß schlagfertig
war, nichts weiter, Sie verstehen, ein Pariser, schlagfertig, aber ohne
Glauben, wie der also über die Temperenzler gesagt hat, niemand
schlösse sich ihnen geschwinder an als Geizhälse und Spitzbuben,
da diese sich persönliche Vorteile davon versprächen; die
einen, weil sie, wie er meinte, auf die Weise Geld sparen, die anderen
aber, weil sie welches dran verdienen könnten, ungefähr so,
wie jene Reeder, die die Schnapsration ersatzlos kürzen, oder wie
Spieler und alle möglichen ausgepichten Betrüger, die sich
mit kaltem Wasser begnügen, um bei ihren Geschäften einen
klaren Kopf zu behalten.«
»In der Tat ein verruchter Gedanke!« rief der Fremde leidenschaftlich.
»Ja.« Der andere, die Ellenbogen aufgestützt, beugte
sich über den Tisch und drohte seinem Gegenüber scherzhaft
mit dem Zeigefinger. »Ja, und wie ich bereits sagte, bemerken
Sie wohl gar nicht die Pointe, wie?«
»Aber ja doch, in der Tat. Ein äußerst lästerlicher
Gedanke, Frank!«
»Und kein Humor?«
»Kein Funke!«
»Alsdann, Charlie« - indem er ihn mit feuchten Augen ansah
- »trinken wir. Mir scheint, Sie sind nicht gerade ein tüchtiger
Zecher.«
»Oh, oh – doch, doch – in dem Punkt bin ich beileibe nicht zimperlich.
Ich versichere Ihnen, einen tüchtigeren Zecher als Freund Charlie
finden Sie nirgendwo«; und dann ergriff er mit Feuereifer sein
Glas, allerdings nur, um damit zu spielen.
»Übrigens, Frank«, versetzte er, vielleicht, vielleicht
aber auch nicht, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, ȟbrigens
habe ich neulich etwas Gutes gelesen, etwas Vorzügliches, ein Loblied
auf die Presse. Es hat mir so sehr gefallen, daß ich es nach dem
zweiten Lesen auswendig konnte. Es ist eine Art Gedicht, aber eines,
das gewissermaßen im selben Verhältnis zum Blankvers steht
wie der Blankvers zum Reim. Eine Art zwangloser Gesang mit Kehrreimen
dazu. Soll ich es Ihnen mal vortragen?«
»Ein Loblied auf die Presse hör ich mir gerne an«,
entgegnete der Kosmopolit, »und um so lieber«, fuhr er in
ernstem Ton fort, »als ich letzthin in gewissen Kreisen eine Neigung
zur Verunglimpfung der Presse feststellen mußte.«
»Zur Verunglimpfung der Presse?«
»Ganz recht; es gibt da ein paar Miesmacher, die behaupten, es
sei evident, daß es mit dieser großartigen Erfindung dasselbe
sei wie mit dem Branntwein, den die Doktoren anfangs, als man ihn entdeckte,
für ein Allheilmittel gehalten haben, wie ja auch sein französischer
Name eau de vie vermuten läßt; eine Auffassung, die
sich, wenden sie ein, nicht in vollem Umfang bestätigt habe.«
»Sie überraschen mich, Frank. Gibt es wirklich Menschen,
die die Presse dergestalt verleumden? Erzählen Sie mir mehr darüber.
Die Gründe.«
»Gründe haben sie keine, aber behaupten tun sie so manches;
sie behaupten unter anderem, in den Monarchien sei die Presse für
das Volk nicht viel mehr als eine Stegreifdichterin, in den Demokratien
hingegen eigne sie sich nur allzugut dazu, der Jack Cade des Volkes
zu sein. Kurzum, diese gelehrten Sauertöpfe sehen in der Presse
so etwas wie einen Revolver, der nur der Sache desjenigen verschworen
ist, der ihn zufällig in der Hand hat; sie halten die eine Erfindung
in ungefähr dem gleichen Sinne für eine Weiterentwicklung
der Schreibfeder, wie sie die andere für eine Weiterentwicklung
der Pistole halten, indem sie meinen, dadurch, daß man die Trommel
vergrößert, werde das Ziel auch nicht heiliger. Der Begriff
Pressefreiheit ist in ihren Augen gleichbedeutend mit Revolverfreiheit.
Und darum denken sie, sich von der einen Wahrheit und Richtigkeit zu
erhoffen, sei kaum vernünftiger, als so, wie Kossuth und Mazzini,
seine Hoffnung auf die andere zu setzen. Reichlich empörende Ansichten,
mögen Sie meinen; aber sie zu widerlegen ist unter der Würde
eines jeden wahren Reformers. Finden Sie nicht auch?«
»Zweifellos. Doch fahren Sie fort, fahren Sie fort. Ich höre
Ihnen gern zu«, versetzte der Fremde in schmeichlerischem Ton
und goß dem anderen das Glas voll bis zum Rand.
»Ich für mein Teil«, sprach der Kosmopolit weiter,
indem er sich ordentlich in die Brust warf, »sehe in der Presse
weder eine Stegreifdichterin noch einen Jack Cade des Volkes; weder
dessen bezahlten Narren noch seinen Packesel, als den sie mancher sich
bisweilen vorstellt. Ich meine, daß bei der Presse die Interessen
niemals über die Pflicht obsiegen. Sie sagt auch dann noch die
Wahrheit, wenn sie gepfählt, wenn sie im Biß der Lüge
gefangen ist. Ich weigere mich, sie verächtlich ein billiges Werkzeug
zur Verbreitung von Nachrichten zu nennen, und beanspruche für
sie die Apostelwürde eines unabhängigen Beförderers der
Erkenntnis – sie ist ein Eiserner Paulus! Ein Paulus, sag ich, denn
sie befördert nicht allein die Erkenntnis, sondern auch die Redlichkeit.
Die Presse, mein lieber Charlie, wird genau wie die Sonne von einem
geheiligten Prinzip wohltätiger Kraft und Helligkeit regiert. Denn
die satanische Presse, die neben der apostolischen erscheint, kann diese
sowenig schwärzen, wie das Erscheinen einer Nebensonne die echte
Sonne schwärzt. So unheilvoll das Parhelion auch aussehen mag,
das Taglicht bringt uns ganz allein Apoll. Mit einem Wort, Charlie,
in meinen Augen ist die Presse de facto, was die englische Monarchie
de jure ist – die Verfechterin des Glaubens! – Die Verfechterin des
Glaubens an den letztendlichen Triumph der Wahrheit über den Irrtum,
der Metaphysik über den Aberglauben, der Lehre über die Täuschung,
der Maschine über die Natur und des guten Menschen über die
schlechten. Nun kennen Sie meine Ansichten, und Sie müssen mir
verzeihen, Charlie, wenn ich dieselben mit einiger Ausführlichkeit
dargelegt habe, denn das ist ein Thema, über das ich nicht in nüchternen
und knappen Worten sprechen kann. Und jetzt bin ich begierig auf Ihre
Lobrede, vor der die meine ohne Zweifel beschämt erröten wird.«
»Ein wenig zum Erröten ist es allerdings«, lächelte
der andere, »aber Sie sollen es hören, wie es ist, Frank.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie anfangen wollen«, sprach
der Kosmopolit, »denn wenn in der Öffentlichkeit, etwa bei
einem Bankett auf die Presse getrunken wird, pflege ich mein Glas allemal
stehend zu leeren, und stehend will ich auch dem Vortrag Ihrer Lobrede
lauschen.«
»Gut, Frank; dann kommen Sie mal hoch von Ihrem Stuhl.«
Und so erhob sich der Kosmopolit, und der Fremde tat es ihm gleich,
hielt die rubinrote Weinflasche in die Höhe und hub an [...]
Herman Melville (1819-1891)
© 1999 Achilla Presse
Aus: Herman Melville, Maskeraden. Oder: Vertrauen
gegen Vertrauen (engl. The Confidence-Man. His Masquerade, Achilla Presse, Hamburg und
Bremen, 1999; Taschenbuchausgabe
btb, 2001
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