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Leseprobe aus
Rebecca Brown, Annie Oakley’s Girl, Kurzgeschichten.
Folio, Wien 1998


[Liebesgedicht]

Es ist wie Kunst, erschaffen und zerstören. Dich faszinieren mißgestaltete Blöcke. Du möchtest sie behauen und sie in etwas Schönes verwandeln und dir beweisen, daß du das kannst. Und du kannst es wirklich. Schön machst du das. Ja, sieh sie dir nur an, all die Dinge, die du schön gemacht hast. In den berühmtesten Galerien der Welt hast du Ausstellungen gehabt. Alle lieben deine Arbeit. Alle sagen, was du für Wunder vollbringst. Hier einige deiner Arbeiten: Lazarus, The Women Who Died, Spring in December, A Sunny Day in Chicago in November, Piña Colada in Salt Lake City, Love Among the Ruins, Blood from a Stone, A Fine Shoot of Green in the Arctic, Love Among the Ruins II, Love Among The Ruins III. Du bist anerkannt. Alle sind von dir begeistert. Alle lieben dich.
Doch sie kennen nicht dein Geheimnis.
In der Nacht nach deiner Vernissage letzten Dezember in der Tate Gallery – die Queen war da, der Premierminister war da, David Bowie war da, John Lennon war da, Peter Cook und Dudley Moore waren da – in der Nacht nach deiner Vernissage ist jemand eingebrochen und hat all deine schönen Gemälde zerfetzt. Jemand hat all deine schönen Metallskulpturen kaputtgemacht. Die aus Marmor sind zertrümmert worden, die aus Glas hat man zerschlagen. Deine Holzplastiken wurden verbrannt. (Du arbeitest mit einer Vielfalt von Materialien.)
Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll davon, und du wurdest in der Times und im Guardian interviewt. Es kamen Korrespondenten aus New York, Washington, L.A., Chicago. Sie sprachen mit dir über die Zerstörung deiner schönen Arbeiten und fotografierten dich, wie du darüber weintest, daß deine schönen Arbeiten zerstört worden waren. Aber du hast ihnen nur wenige Fotos gestattet und nur wenige Fragen beantwortet, weil du, wie du selber und dein Agent ihnen immer wieder sagten, zu sehr erschüttert seist über die Zerstörung deiner schönen Arbeiten. Wie kann jemand nur das Bedürfnis haben, so etwas zu tun? Alle haben den Kopf geschüttelt. Solche schönen Arbeiten – unersetzlich. Das Foto auf der Titelseite der Times war ergreifend und bestürzend. Dein Gesicht konnte ich kaum erkennen (Du hattest den Kopf von der Kamera abgewandt), aber ich sah deine Tränen. Ich sah deine Tränen, und sie wirkten echt, sogar für mich. Sie liefen dir übers Gesicht, herrlich, wie auf einem deiner in Driptechnik gemalten Bilder à la Helen Frankenthaler. Ja, du warst sehr schön. [...]

Rebecca Brown

© 1998 Folio

Aus: Rebecca Brown, Annie Oakley’s Girl, Kurzgeschichten; Folio, Wien 1998

 


 

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