Leseprobe aus
Jonathan Swift, Gullivers Reisen,
Manesse Verlag, Zürich 2006
II. Buch
1. Kapite
Beschreibung eines großen Unwetters; das Beiboot wird ausgeschickt,
um Wasser zu holen, und der Verfasser fährt mit, um das Land zu
erforschen.
Er wird an der Küste zurückgelassen, von einem der Eingeborenen
aufgegriffen und in das Haus eines Großbauern gebracht.
Seine Aufnahme dortselbst nebst einigen Unglücksfällen, die
ihm widerfahren.
Eine Beschreibung der Einwohner.
Von Natur und Fortuna zu einem tätigen und rastlosen
Leben bestimmt oder verdammt, verließ ich, nur zwei Monde nach
meiner Heimkehr, mein Vaterland aufs neue und schiffte mich am 20. Tage
des Juni anno 1702 in den Downs abermals ein und begab mich an Bord
der Adventure, die unter dem Kommando von Kapitän John Nicholas
aus Cornwall stand und eben im Begriffe war, nach Surat auszulaufen.
Der Wind war sehr gedeihlich, bis wir zum Kap der Guten Hoffnung kamen,
wo wir an Land gingen, um Trinkwasser aufzunehmen, dabei jedoch ein
Leck entdeckten, so daß wir unsere Fracht ausladen und dort überwintern
mußten; weil überdies der Kapitän an einem wechselnden
Fieber erkrankte, konnten wir das Kap nicht vor Ende März verlassen.
Alsdann aber setzten wir die Segel und hatten eine gute Fahrt, bis wir
die Straße von Madagaskar passierten; doch als wir nördlich
jener Insel waren, ungefähr fünf Grad südlicher Breite,
begann der Wind, der in jenen Meeren im allgemeinen von Anfang Dezember
bis Anfang Mai beständig und gleichmäßig aus Nordwesten
weht, am 19. April plötzlich viel heftiger und auch stärker
als gewöhnlich aus westlicher Richtung zu blasen, und das blieb
so für volle zwanzig Tage, wodurch es uns ein wenig östlich
über die Molukken hinaus und ungefähr drei Grad nördlich
des Äquators trieb, wie unser Kapitän am 2. Mai, da sich der
Wind gelegt hatte und zu meiner nicht geringen Freude vollkommene Flaute
herrschte, anhand einer Beobachtung entdeckte. Der Kapitän jedoch,
der diese Meere wie seine Westentasche kannte, ordnete an, sämtliche
Vorkehrungen für einen Sturm zu treffen, der dann auch prompt am
nächsten Tage ausbrach. Da nämlich kam ein tüchtiger
Südpüster auf, auch südlicher Monsun geheißen.
Als wir merkten, daß der Wind drauf und dran war, uns das Sprietsegel
aus den Lieks zu reißen, fuhren wir's unter den Bugspriet und
hielten uns klar, die Breitfock gleichfalls zu beschlagen; doch wir
kamen in immer schwereres Wetter und mußten nachschauen, ob die
Geschütze ordentlich festgezurrt waren, alsdann beschlugen wir
den Besan ebenfalls. Und weil das Schiff nun weit vom Winde abgefallen
war, schien's uns sicherer, nicht beizudrehen, sondern lieber mit beschlagenem
Tuche vor der See zu lenzen. Wir refften die Breitfock und setzten sie
bei, holten die Fockschot nach achtern durch und legten das Ruder hart
an Luv. Und wacker ritt die Adventure den Wind ab. Nun machten wir den
Vor-Stag-Niederholer fest, doch das Segel war gerissen, und so holten
wir die Rah nieder und nahmen es ganz ins Schiff und banden alles davon
klar. Mächtig wütete der Sturm, die Brecher waren ungewöhnlich
und gefährlich. Wir holten die Stenge am Talljereep an und gingen
dem Rudergast zur Hand. Die Marsstenge wollten wir nicht niederholen,
sondern ließen sie oben stehen, denn unser Schiff lief recht gut,
und wir wußten sehr wohl, daß es umso ruhiger liegen und
umso bessere Fahrt machen würde, je länger die Stenge geriggt
blieb, zumal wir Seeraum voraus hatten. Als der Sturm vorüber war,
setzten wir Vormars und Großmars und drehten das Schiff wieder
in den Wind. Dann setzten wir Besan, Großtopp und Vortopp. Unser
Kurs war Ost-Nordost, der Wind kam aus Südwest. Wir holten steuerbords
die Schoten ein, warfen Luvbrassen und Toppnanten aus, strafften die
Leebrassen, zogen die Luvbulinen ein und holten sie dicht, und schließlich
holten wir den Besanhals über und hielten voll und bei, so gut
es eben ging.
Während dieses Sturmes, dem ein kräftiger Wind von West-Südwest
folgte, wurden wir nach meinen Berechnungen ungefähr eintausendfünfhundert
Meilen gen Osten abgetrieben, so daß auch der älteste Seemann
an Bord nicht hätte sagen können, in welchem Teil der Welt
wir uns befanden. Unser Proviant reichte noch einige Zeit, unser Schiff
war rüstig und unsere Mannschaft durchweg bei guter Gesundheit,
nur hinsichtlich des Trinkwassers konnte unsere Lage verzweifelter nicht
sein. Wir fanden, es sei das Beste, den Kurs zu halten und nicht gen
Norden abzudrehen, was uns womöglich am Ende gar noch in die nordwestlichen
Regionen der Großen Tartarei und in die arktische See geführt
hätte.
Am 16. Tage des Juni anno 1703 erspähte ein Schiffsjunge in der
Marsstenge Land. Am 17. kam eine große Insel in Sicht oder gar
ein ganzer Erdteil (denn wir wußten ja nicht, ob es das eine oder
das andere war), an deren oder dessen Südseite eine kleine Landzunge
ins Meer ragte, und diese formte eine Bucht, zu flach, als daß
ein Schiff von ungefähr einhundert Tonnen dort hätte anlegen
können. So gingen wir denn ungefähr drei Meilen vor dieser
Bucht vor Anker, und unser Kapitän schickte das Beiboot mit einem
Dutzend seiner Männer an Land, allesamt gut bewaffnet und mit Behältnissen
versehen für das Wasser, falls sie denn welches fänden. Ich
bat ihn um die Erlaubnis, mit übersetzen zu dürfen, denn ich
war darauf erpicht, mir das Land anzuschauen und, falls möglich,
die eine oder andere Entdeckung zu machen. Als wir ans Ufer kamen, fanden
wir dort weder Fluß noch Quelle, noch irgendeine Spur von etwelchen
Bewohnern. Darum wanderten unsere Männer an der Küste entlang,
um nahe der See nach Trinkwasser zu suchen, und ich streifte allein
ungefähr eine Meile landeinwärts umher und fand dortselbst
den Boden durchaus unfruchtbar und steinig. Nach einer Weile überkam
mich dann die Müdigkeit, und weil mir nichts ins Auge fiel, was
meine Neubegierde wecken konnte, begab ich mich gemachsam wieder zu
der Bucht hinab; und als die See nun vor mir ausgebreitet lag, entdeckte
ich, daß unsere Männer bereits wieder im Boote saßen
und aus Leibeskräften zum Schiff zurückruderten, als gälte
es ihr Leben. Ich wollte ihnen eben nachrufen, was freilich wenig Nutzen
gehabt hätte, doch da bemerkte ich auf einmal im Meere eine riesenhafte
Kreatur, die ihnen eilends nachsetzte. Das Wesen im Wasser, das ihm
kaum höher als bis zu den Knien ging, machte gewaltige Schritte.
Doch unsere Männer waren ihm anderthalb Meilen voraus, und das
Meer war an dieser Stelle voll spitziger Riffe, so daß es diesem
Ungeheuer nicht gelang, das Boot zu packen. All das bekam ich später
erst erzählt, denn ich getraute mich nicht, länger zu verweilen
und mir den Ausgang dieses Abenteuers anzusehen, sondern rannte, so
rasch ich irgend konnte, den Weg zurück, den ich gekommen war,
und kletterte dann einen steilen Hang hinan, von dem aus ich das Land
mehr oder minder überblicken konnte. Ich fand es wohl bestellt,
doch was mich mehr als alles andere überraschte, war die Länge
des Grases, das in den anscheinend für die Heumahd bestimmten Wiesengründen
schier über zwanzig Fuß hoch war.
Ich geriet auf eine Straße, die mir wie eine breite Landstraße
vorkam, den Einheimischen allerdings nur als schmaler Fußweg durch
ein Gerstenfeld diente. Ihr folgte ich noch eine Weile weiter, konnte
jedoch weder nach der einen noch nach der anderen Seite viel sehen,
weil die Erntezeit nahe war und das Korn wenigstens vierzig Fuß
hoch stand. Es dauerte eine Stunde, bis ich das Ende dieses Ackers erreicht
hatte, der von einer mindestens hundertzwanzig Fuß in den Himmel
emporragenden Hecke eingefriedet war, und die Bäume waren so riesig,
daß ich ihre Höhe nicht einmal schätzen konnte. Mit
Hilfe eines Zauntritts gelangte man von dem einen Feld zum nächsten.
Er hatte vier Stufen, und auf der obersten war noch ein Stein, der überquert
sein wollte. Diesen Zauntritt zu erklimmen war mir indes nicht möglich,
weil jede Stufe sechs Fuß und der oberste Stein etwa zwanzig Fuß
hoch war. Und während ich noch fleißig nach einer Bresche
in der Hecke suchte, erspähte ich auf dem nächsten Acker einen
Einheimischen, der auf den Zauntritt zukam und ungefähr so riesig
war wie jener andere, den ich im Meer gesehen hatte, als er unser Boot
verfolgte. Er schien mir die Höhe eines gewöhnlichen Kirchturms
zu haben und nahm nach meiner groben Schätzung ungefähr zehn
Ellen auf einen Schritt. Sprachlos vor Staunen und von namenloser Angst
gepackt, rannte ich los, um mich im Korn zu verstecken, und von dort
sah ich ihn oben auf dem Zauntritt stehen und sich umwenden nach dem
nächsten, rechterhand gelegenen Felde, und hörte ihn rufen
mit einer Stimme, die noch um viele Grade lauter als eine Sprachtrompete
war; doch das Geräusch war so hoch oben in der Luft, daß
ich zuerst wahrhaftig meinte, es sei ein Donnergrollen. Hierauf erschienen
sieben weitere Ungeheuer von seiner Art, ein jedes mit dem Schnitterwerkzeug
in der Hand, und ihre Sicheln war sechsmal größer als die
unseren. Die Leute waren nicht so fein gekleidet wie der erste, dem
sie anscheinend dienten oder für ihn arbeiteten, denn sobald jener
erste ein paar Worte gesprochen, schickten sie sich an, das Korn auf
dem Feld, in dem ich versteckt lag, abzumähen. Ich wich, so gut
ich es vermochte, aus, konnte mich aber nur mit Mühe fortbewegen,
denn an manchen Stellen standen die Halme keinen Fußbreit auseinander
und es gelang mir kaum, mich zwischen ihnen hindurchzuzwängen.
Aber sei's drum, irgendwie schlug ich mich durch, bis ich auf einen
Teil des Feldes kam, wo Regen und Wind die Ähren niedergelegt hatten.
Dort kam ich keinen Schritt mehr weiter voran, denn der Verhau, welchen
die Halme bildeten, war derart dicht daß es mir nicht gelang,
zwischen ihnen hindurchzukriechen, und die Grannen der herabgefallenen
Ähren waren so starr und spitz, daß sie mir durch die Kleider
stachen, geradewegs ins Fleisch. Und dabei hörte ich kaum hundert
Ellen hinter mir die Schnitter. Ermattet von der Mühsal und Beschwerlichkeit
und ganz von Kummer und Verzweiflung überwältigt, sank ich
in einer Furche nieder und wünschte mir aus tiefstem Herzen, es
möchte mir vergönnt sein, dortselbst mein Erdendasein zu beschließen.
Ich beweinte meine Witwe, der es beschieden wäre, einsam hienieden
zurückzubleiben, und meine vaterlosen Kinder. Ich lamentierte über
meine eigene Torheit und meinen Eigensinn, die mich dazu verleitet hatten,
gegen den Rat all meiner Freunde und Verwandten noch einmal eine solche
Reise zu wagen. In dieser furchtbaren Erregung des Gemütes dachte
ich unwillkürlich an Lilliput zurück, bei dessen Einwohnern
ich als das größte Wunderwesen auf der ganzen Welt gegolten
und wo ich es fertig gebracht hatte, eine ganze Kaiserliche Flotte mit
einer Hand fortzuziehen und was dergleichen Kunststückchen mehr
waren, die für alle Zeiten in den Annalen jenes Reiches verzeichnet
bleiben werden und die, obwohl Millionen dabei Zeugen waren, die Nachwelt
schwerlich glauben können wird. Ich stellte mir vor, wieviel Verdruß
meiner hier harrte, in diesem Reiche, in dem ich gewiß von keinem
größeren Belange wäre als in dem unseren ein Lilliputaner.
Jedoch erschien mir dieses noch als das Geringste meiner Mißgeschicke.
Denn wenn die Wildheit und die Grausamkeit der menschlichen Kreatur
tatsächlich, wie man sagt, zu ihrem Leibesumfang im Verhältnis
steht, was durfte ich dann mehr erwarten, als ein Bissen im Munde des
ersten besten dieser barbarischen Riesen zu sein, der mich zu fassen
kriegte? Die Philosophen haben ohne Zweifel recht, wenn sie uns sagen,
groß oder klein werde etwas doch erst durch den Vergleich. Ebenso
hätte es dem Schicksale belieben können, die Lilliputaner
auf irgend ein anderes Volk treffen zu lassen, dessen Einwohner im Vergleich
zu ihnen ebenso winzig wären wie sie selbst es im Vergleich zu
mir gewesen waren. Und wer weiß, ob nicht sogar auch diese riesenhafte
Rasse von Sterblichen in jenem Lande dort auf ganz genau die gleiche
Weise in irgend einem fernen, von uns bislang noch unentdeckten Teil
der Welt von einer anderen übertroffen werden mag? (...)
Als das Mahl schon beinahe beendet war, kam die Amme herein; sie trug
ein Kind auf dem Arm, das just ein Jahr alt war und mich sogleich erspähte
und erst einmal in den gewohnten kindlichen Bettelgesang verfiel, weil's
mich als Spielzeug haben wollte, dann aber ein Gebrüll anstimmte,
das man von der London Bridge bis hinauf nach Chelsea hätte hören
können. Die allzu nachgiebige Mutter hob mich auf und reichte mich
dem Kinde, das mich flugs um die Taille packte und meinen Kopf in den
Mund steckte, worauf ich so laut kreischte, daß es das Kleine
mit der Angst zu tun bekam und mich fallen ließ und ich mir unfehlbar
das Genick gebrochen hätte, wäre die Mutter nicht mit ihrer
Schürze bei der Hand gewesen, um mich aufzufangen. Die Amme griff,
um den Säugling zu beruhigen, nach einer Klapper, einer Art hohlem
Gefäß, welches mit großen Steinen gefüllt und
mit einem Strick am Hemd des Kindes festgemacht war. Doch als auch das
nichts half, blieb ihr nichts weiter übrig, als zum letzten Mittel
zu greifen und das Kleine säugen. Ich muß gestehen, ich habe
mich noch nie zuvor von etwas so sehr abgestoßen gefühlt
wie von dem Anblick ihrer ungeheuren Brust; auch will mir kein Vergleich
einfallen, um dem wißbegierigen Leser einen Begriff von der Größe,
der Form und der Farbe dieser Brust zu geben. Sie ragte sechs Fuß
nach vorn und maß im Umfang sicherlich nicht weniger als sechzehn
Fuß. Die Warze hatte beinah halb die Größe meines Kopfes,
und war, wie das Gesäuge insgesamt, derart mit Finnen, Pusteln,
Sommersprossen übersäht, daß man sich in der Tat nichts
Ekelhafteres ausmalen kann. Denn immerhin sah ich sie ja aus allernächster
Nähe, hatte sie sich doch der größeren Bequemlichkeit
halber zum Säugen niedergesetzt, derweil ich selber auf dem Tische
stand. Dies ließ mich an die helle Haut unserer englischen Ladys
denken, die uns nur deswegen so schön erscheinen, weil sie die
gleiche Größe wie wir haben und wir ihre Makel nur erkennen
könnten, wenn wir ein Vergrößerungsglas zu Hilfe nähmen,
denn durch diesen Versuch würden wir alsdann bemerken, daß
auch die glatteste, weißeste Haut in Wahrheit grob und derb und
übelfarben aussieht.
In Lilliput, entsinn ich mich, erschien der Teint der winzig kleinen
Leute dort mir schöner als sonst irgendwo hienieden; und als ich
mich einmal mit einem gelehrten Manne, einem vertrauten Freunde, über
das Thema unterhielt, sagte er, wenn er mich von unten betrachte, komme
ihm mein Gesicht viel schöner und auch glatter vor, als wenn ich
ihn aufheben und in meiner Hand halte würde und er mich ganz von
nahem ansehen könne, und dieser Anblick habe ihn, gestand er mir,
anfangs fürwahr sehr erschüttert. Er könne große
Löcher in meiner Haut erkennen, sagte er, und daß die Stoppeln
meines Bartes wohl zehnmal störrischer als Wildschweinborsten seien,
auch setze sich mein Teint aus allerlei Farben zusammen, die alle durchaus
unansehnlich seien. Und dabei darf ich doch, halten zu Gnaden, von mir
sagen, daß ich nicht weniger hell bin als die meisten meiner Landsleute
und dafür, daß ich soviel gereist bin, auch nur sehr wenig
sonnverbrannt. Andererseits pflegte er, wenn wir über die Damen
an jenem Kaiserhofe sprachen, stets zu bemerken, daß die eine
Sommersprossen habe, die andere einen zu breiten Mund und die Dritte
eine zu große Nase, obgleich ich nichts von alledem entdecken
konnte. Wohl wahr, damit sage ich nun gewiß nichts Neues, aber
sagen mußte ich es doch, damit der Leser nicht am Ende glaubt,
daß diese riesenhaften Kreaturen wahrhaftig mißgestaltet
wären. Vielmehr gebietet die Gerechtigkeit mir zu erklären,
daß diese Spezies ein wohlgefälliges Äußeres hat
und mir besonders auch die Züge und der Teint von meinem Herrn,
der ja doch bloß ein Bauer war, aus einem Höhenunterschied
von sechzig Fuß betrachtet, wohlproportioniert und ebenmäßig
schienen.
Nach dem Mahle ging mein Herr hinaus zu seinen Arbeitern und ließ
mich in der Obhut seines Weibes und gab ihr, wie ich aus seinem Ton
und seinen Gebärden schloß, gestrenge Anweisungen, wie sie
mir zu verfahren habe. Ich war sehr müde und sehnte mich nach Schlaf,
was meiner Herrin nicht entging, und so legte sie mich denn auf ihr
eigenes Bette und deckte mich mit einem reinen weißen Schnupftuch
zu, das größer und derber war als das Großsegel auf
einem Kriegsschiff.
Ich schlief ungefähr zwei Stunden, und mir träumte, ich wäre
zu Hause bei meinem Weibe und den Kindern, was meinen Kummer nur noch
größer machte, denn als ich erwachte, befand ich mich ganz
allein in einem riesigen, zwei- oder dreihundert Fuß großen
und mehr als zweihundert Fuß hohen Zimmer und lag darin in einem
Bette, das zwanzig Ellen breit war. In jene Kammer hatte meine Herrin
mich eingeschlossen und war zu ihren Haushaltspflichten zurückgekehrt.
Acht Ellen war es hoch, das Bett. Gewisse dringende Bedürfnisse
zwangen mich hinabzuklettern; zu rufen mochte ich mich nicht erdreisten,
und hätt ich's doch getan, es hätte nichts genützt bei
einer Stimme wie der meinen und diesem großen Abstand zwischen
der Stube, darinnen ich lag, und der Küche, darinnen die Familie
beisammen war. Und wie ich mich nun also in dieser vertrackten Lage
befand, kletterten auf einmal zwei Ratten an den Vorhängen hoch
und rannten schnüffelnd auf dem Bette hin und her. Die eine kam
mir fast bis ins Gesicht, worauf ich furchterfüllt aufsprang und
meinen Hirschfänger zückte, um mich zu verteidigen. Diese
garstigen Tiere waren so keck, mich von beiden Seiten anzugreifen, und
eine hatte schon die Vorderpfote an meinem Kragen, allein, es glückte
mir, ihr den Wanst aufzuschlitzen, ehe sie noch dazu kam, mir etwas
zuleide zu tun. Sie fiel zu meinen Füßen nieder, und als
die andere sah, welches Geschick ihre Gefährtin ereilt hatte, da
gab sie Fersengeld, doch nicht ohne eine tüchtige Wunde am Hinterteil,
die ich ihr noch verpaßte, als sie schon die Flucht ergriffen,
so daß das Blut daraus hervorquoll. Nach dieser Heldentat ging
ich gemachsam auf dem Bette auf und ab, um Atem zu schöpfen und
die verlorenen Lebensgeister zu erfrischen. Die Biester hatten die Größe
einer großen Bulldogge gehabt, waren aber unendlich viel grimmiger
und flinker gewesen, und wenn ich, als ich mich zum Schlafen niederlegte,
mein Bandolier nicht anbehalten hätte, wär ich unweigerlich
von ihnen in Stücke gerissen und verschlungen worden. Ich maß
den Schwanz der toten Ratte, und siehe da, es fehlte an zwei Ellen nur
ein Zoll; jedoch bei dem Gedanken, daß ich nun den Kadaver vom
Bette zerren sollte, wo er noch immer blutend lag, drehte sich mir den
Magen um, zumal ich sah, daß noch ein Rest von Leben in ihm war;
jedoch mit einem tüchtigen Streich quer über das Genick beförderte
ich dieses Ungetier ins Jenseits.
Nicht lange darauf trat meine Herrin ein, und wie sie all das Blut sah,
kam sie sogleich angelaufen und nahm mich in die Hand. Ich zeigte auf
die tote Ratte und bedeutete ihr lächelnd mit anderen Gebärden,
die ich machte, daß ich unverletzt sei, worauf sie über alle
Maßen erfreut war; sogleich rief sie die Magd herbei und ihr trug
auf, die tote Ratte mit einer Zange aufzuheben und zum Fenster hinauszuwerfen.
Alsdann setzte sie mich auf einen Tisch, wo ich ihr meinen blutverschmierten
Hirschfänger zeigte, ihn an meinem Rockchoß abwischte und
wieder in die Scheide steckte. Inzwischen wuchs mein Drang, mehr als
ein Ding zu tun, das niemand sonst für mich erledigen konnte, und
so bemühte ich mich, meiner Herrin klar zu machen, daß es
mein Wunsch sei, auf dem Boden abgesetzt zu werden, was sie auch endlich
tat, und weil die Scham es mir verbot, genauer zu erklären, was
ich vorhatte, so deutete ich bloß unter vielen Bücklingen
nach der Türe. Endlich, nach manchen Schwierigkeiten, begriff die
gute Frau, worauf ich aus war, und nahm mich wieder in die Hand und
trug mich in den Garten, wo sie mich niedersetzte. Ich ging ungefähr
zweihundert Ellen beiseite und bedeutete ihr, weder hinzuschauen noch
mir zu folgen, verbarg mich zwischen zwei Sauerampferblättern und
entledigte mich meiner natürlichen Bedürfnisse.
Der geneigte Leser wird hoffentlich die Güte haben, mir die Weitschweifigkeit
nachzusehen, mit welcher ich mich über diese und ähnliche
Einzelheiten verbreite, denn so unbedeutend diese den gemeinen Erdengeistern
auch erscheinen mögen, werden sie einem Philosophen doch gewißlich
helfen, seinen Verstand und seine Einbildungskraft zu erweitern und
sich sowohl des einen als auch der anderen zum Vorteile nicht nur der
Allgemeinheit, sondern auch des Einzelnen zu bedienen, was denn auch
die einzige Absicht war, die mich bewog, diesen und andere Berichte
über meine Reisen der Welt zu präsentieren; auch habe ich
mich darin befleißigt, hauptsächlich die Wahrheit zu ergründen,
ohne dabei zu etwelchen erkünstelten Ausschmückungen, sei
es durch Gelehrsamkeit oder sei es durch den Stil, Zuflucht zu nehmen.
Vielmehr hat das ganze Spektakel dieser Reise meinem Geiste einen so
starken Eindruck gemacht und sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt,
daß ich es nunmehr zu Papiere bringen will, ohne auch nur eine
einzige Begebenheit auszulassen, die für das Ganze von Bedeutung
war. Obwohl ich in der Tat die eine oder andere Stelle, die mir weniger
wichtig dünkte und die in der ersten Fassung noch enthalten war,
nach gestrenger nochmaliger Durchsicht gestrichen habe, weil ich befürchtete,
man möchte mich der Weitschweifigkeit oder der Kleinkrämerei
zeihen, was ja den Verfassern von Reisebeschreibungen nicht selten und
womöglich auch nicht ganz zu Unrecht widerfährt.
Jonathan Swift (geb. 1667)
Aus: Gullivers Reisen (engl. Travels Into Severel Remote
Nations Of The World In Four Parts By Lemuel Gulliver, First A Surgeon
And Then A Captain Of Several Ships (1726) © Manesse Verlag, Zürich,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München; Illustrationen
v. Anton Christian; Nachwort v. Dieter Mehl; 320 S., Prachtband, Leinen
im Schmuckschuber ISBN 10: 3-7175-9017-0; ISBN 13: 978-3-7175-9017-0,
Subskriptionspreis bis 31.12.06: 59,90 €, danach 79,90 €;
Leder im Schmuckschuber ISBN 10: 3-7175-9018-9; ISBN 13: 978-3-7175-9018-7,
Subskriptionspreis bis 31.12.06,128,00 €, danach 148,00 €