Herman Melville
Pierre
oder Die Doppeldeutigkeiten
Den Roman hat es schon einmal auf Deutsch gegeben: 1965 im Claassen
Verlag, übersetzt von Walter Weber unter dem allzu fantasievollen
Titel Pierre oder Im Kampf mit der Sphinx. Ist die neue
Übersetzung von Christa Schuenke besser? Betrachten wir die zwei
bereits auszugsweise zitierten Passagen im Vergleich.
Beispiel 1: „For now am I hate-shod! On these I will skate to my
acquittal! No longer do I hold terms with aught. World‘s bread of
life, and world‘s breath of honor, both are snatched from me, but I
defy all world‘s bread and breath. Here I step out before the drawn-up
worlds in widest space, and challenge one and all of them to battle!“
Walter Weber: „Denn jetzt bin ich vom Haß beflügelt. Damit will ich zu
meiner Freisprechung fliegen! Ich halte meine Termine mit niemand mehr
ein. Das Brot des Lebens und der Atem der Ehre der Welt, beide sind
mir entrissen; doch ich trotze allem Brot und allem Atem dieser Welt.
Hier trete ich heraus vor die Front der Welt ins weiteste Feld und
fordere jeden und alle zum Kampf heraus.“
Christa Schuenke: „Denn jetzt trage ich die Schlittschuhe des Hasses
an den Füßen! Auf ihnen will ich meinem Freispruche entgegengleiten!
Ich halte mich an keine Übereinkunft mehr. Das weltliche Brot des
Lebens, der weltliche Odem der Ehre, sie sind beide mir entrissen;
aber ich verschmähe alles weltliche Brot und allen weltlichen Odem.
Ich trete hinaus vor die künstlichen Fassaden der Welt, hinaus ins
freieste Feld, und fordere alle und jeden zum Kampf!“
Beispiel 2: „An infixing stillness, now thrust a long rivet through
the night, and fast nailed it to that side of the world.
Walter Weber: „Tiefe Stille durchdrang die Nacht und legte sich wie
eine weiche Mutterhand auf diesen Teil der Welt.“
Christa Schuenke: „Da durchschlug ein Keil von Stille die Nacht und
nagelte sie wie mit einem langen Bolzen fest an diese Seite der Welt.“
In beiden Fällen ist Christa Schuenke freier und zugleich
überzeugender. In Beispiel 2 hat Walter Weber offenbar wild
fantasiert, jedenfalls ist von der „weichen Mutterhand“ im Urtext
nichts zu sehen. Man erkennt an den Beispielen, wie klangvoll und
komplex Melville im Original ist und wie schwierig es es sein muss,
eine deutsche Entsprechung zu finden. Es hat sich jedenfalls gelohnt,
eine neue Übersetzung anfertigen zu lassen, und Christa Schuenke hat
ihre Aufgabe glanzvoll gelöst.
- Ulrich Greiner, DIE ZEIT -
Ein grandioser Findlingsblock
"Pierre" - Herman Melvilles verflixtes 7. Buch
[...] Für die Mehrzahl der zeitgenössischen Kritiker war das Buch
ein Skandal und seinem Autor wurde "Wahnsinn" attestiert.
Was "uns Melville damit sagen wollte" - und ob ihm
überhaupt gelungen ist, "uns" & sich etwas "zu
sagen" oder ob ihm das literarische Unternehmen nicht vielmehr
gründlich misslungen ist -, scheint immer noch zweifelhaft,
wenngleich der 1960 geborene deutsche Amerikanist Daniel Göske jetzt
den Mut hat, "Pierre" neben "Moby-Dick" als eine
"radikales Romanexperiment" auszurufen, "das in der
Erzählliteratur der damaligen Zeit seinesgleichen sucht".
Göske gibt die "Ausgewählten Werke" Melvilles bei C.
Hanser heraus, und nach dem spektakulären Beginn mit "Moby
Dick" im vergangenen Jahr folgt nun in der Neuübersetzung
Christa Schuenkes "Pierre". Es ist ein literarisches
Ereignis ersten Ranges, das die längst vergriffene Erstübersetzung
Walter Webers von 1965 glanzvoll übertrumpft.
Zwar rechtfertigt sich die periodische Neuübersetzung klassischer
Autoren primär durch die historischen Veränderungen in den
Gastsprachen (wenngleich damit keineswegs die Vulgarisierung des
Originals durch wechselnde Alltags-Jargons gemeint ist); aber im
besonderen Falle Herman Melvilles geht es noch vielmehr darum, die
sprachlich-stilistischen Eigenheiten & -arten des amerikanischen
Solitärs, welche schon seine Zeitgenossen irritierten, derart
getreulich zu übertragen, dass möglichst viele Nuancen der
verschiedenen Stilebenen des komplexen Romans, der zwischen Parodie
und Pathos, zwischen Bildungs- & Schauerroman, Melodrama,
philosophischem Essay und Literatursatire changiert, auch auf deutsch
transparent hervortreten zu lassen.
Es könnten damit "Patina und Eigenheiten des Originals
nachempfunden werden", wobei jedoch "Anachronismen vermieden
werden sollten", wenngleich für die Übersetzung sowohl
englisch- wie deutschsprachige Lexika des 19.Jahrhunderts herangezogen
wurden. Darüber hinaus, fügt der Herausgeber Daniel Göske noch
hinzu, sei die übersetzerische und editorische Strategie Christa
Schuenkes durch elektronische Textrecherchen und andere
Werkkonkordanzen ermöglicht worden, so dass "verbale Leitmotive
des Romans" ebenso wie Bezüge innerhalb des Melvilleschen
Oeuvres und versteckte Anspielungen auf andere Texte der Weltliteratur
sichtbar werden -, was vor allem auch durch die Anmerkungen geleistet
wird.
- Wolfram Schütte, www.titel-magazin.de, 25.09.2002 -
Ein amerikanischer «Faust»: Herman Melvilles monströser Roman
«Pierre» verwirrte die Zeitgenossen. Eine vorzügliche
Neuübersetzung zeigt nun, was sie übersahen.
Dem Drang zum grossen Ganzen, der alles mit allem verknüpft,
entspricht Melvilles Sprache. Aus jedem Assoziationsfeld bricht er sich
seine Metaphern, Vergleiche und Bilder, wodurch eine hemmungslose
Stilmelange entsteht. Und auch die Satzlabyrinthe, gegen deren
syntaktische Sperrigkeit Prousts Konstruktionen leicht durchschaubaren
Gebilden gleichen, nähren sich aus diesem rigorosen Alles oder Nichts.
Dass dieser Buchklotz in einer inspirierten Neuübersetzung erscheint,
verdankt sich dem anhaltenden Interesse, das Melvilles Werk inzwischen
auch in Deutschland erregt. Die Ausgabe ausgewählter Werke, die mit «Moby-Dick»
begann und nun mit «Pierre» fortgesetzt wird, ist eine verlegerische
Glanztat, vom Herausgeber Daniel Göske kommentiert und von Hans-Joachim
Lang mit einem erhellenden Nachwort versehen. Die inspirierte
Übersetzung von Christa Schuenke folgt den Kriterien, die auch der «Moby-Dick»-Übersetzung
anlagen, nämlich «Pierre» als entschieden eigenartiges, vieldeutiges
und widersprüchliches Sprachkunstwerk ernst zu nehmen.
- Klaus Modick, Zürcher Tages-Anzeige, 23.11.2002 -
Leviathan ist nicht der größte Fisch
Der krakenhafte Roman, der ihn in Armut und Wahnsinn trieb: Herman
Melvilles "Pierre" in einer glänzenden neuen Übersetzung
[...] jener kaum bekannte Roman von 1852, der nun (nach einem ersten
Versuch von 1965) endlich in einer kongenialen deutschen Übersetzung
vorliegt [...] Vielleicht, hoffentlich ist das Publikum heute bereit,
von diesen Doppeldeutigkeiten zu lesen und den Autor zu bewundern, der
vor hundertfünfzig Jahren den Mut, den Scharfsinn und das gewaltige
Sprachvermögen aufbrachtet, von ihnen zu erzählen.
- Verena Lueken, FAZ, 21.12.2002 -
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